Schauplatz L'Aquila:Die neue Altstadt

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Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit in Italien die Hauptstadt der Region Abruzzen von einem Erdbeben erschüttert wurde. Seither wird die Altstadt rekonstruiert. Doch schon jetzt ist abzusehen, dass das Leben darin nicht wiederkehrt.

Von Thomas Steinfeld

Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit die Stadt L'Aquila in den Abruzzen von einem Erdbeben erschüttert wurde, das vor allem das historische Zentrum traf. Es dauerte Jahre, bis die Rekonstruktionen in Gang kamen. Dann jedoch verwandelte sich die Altstadt in eine gewaltige Baustelle. Die historischen Fassaden ganzer Straßenzüge sehen jetzt neu aus, bei einigen Palazzi sind sogar die Innenhöfe wieder begehbar. Der Dom allerdings, mit seiner eingestürzten Vierung, befindet sich ebenso noch im Zustand des Jahres 2009 wie die Kirche Santa Maria Paganica. Dennoch wird am kommenden Wochenende die Jahreskonferenz des italienischen Ministeriums für Kunst- und Kulturschätze in L'Aquila tagen, und es gehört nicht viel prophetischer Sinn dazu, um vorherzusagen, dass man mit den Fortschritten des Wiederaufbaus halbwegs zufrieden sein wird.

Mindestens zehn Jahre wird es, den gegenwärtigen Takt des Wiederaufbaus vorausgesetzt, wohl noch dauern, bis die Folgen des Erdbebens nicht mehr zu sehen sind. Dass die dann rekonstruierte Stadt ein völlig anderes Gemeinwesen sein wird, ist allerdings schon zu erkennen: Zwar gibt es Geschäfte, die in das Zentrum zurückgekehrt sind. Doch es handelt sich vor allem um Gastronomie und um Läden des täglichen Bedarfs, von denen die Arbeiter der Baustellen und die Studenten der teilweise zurückgekehrten Universität tagsüber mit dem Nötigsten versorgt werden. Schon ein paar Schritte weiter ist man in den Gassen so allein, dass die Schritte widerhallen. Die Farben der rekonstruierten Gebäude sind vermutlich dieselben wie die alten - dennoch sehen sie anders aus. Ein Geruch von Kalk oder Gips liegt in der Luft. Etwa zwanzigtausend Einwohner hatte die Altstadt vor dem Erdbeben. Jetzt sind es ein paar hundert Menschen, vielleicht tausend, was keiner so genau weiß. Am Wochenende jedenfalls, wenn die Bauarbeiter und Studenten nach Hause gefahren sind, ist, abgesehen vom Sonntagvormittag vor den Kirchen, fast niemand zu sehen.

Wenige Monate nach dem Erdbeben begann man, im Tal unterhalb von L'Aquila Siedlungen zu bauen, um die obdachlos gewordene Bevölkerung aufzunehmen: schnell, mit einfachen Mitteln, ohne große Ansprüche an die Architektur. Eigentlich nur als Provisorium gedacht, bilden diese Siedlungen längst eine Agglomeration, so wie es sie in der Peripherie vieler Großstädte gibt. Die Menschen haben sich dort eingerichtet, auch wenn sie nun anders leben, als sie es vorher taten: in Abhängigkeit von einem Automobil, ohne die alte urbane Infrastruktur. Eingekauft wird im Supermarkt vor der Stadt. Unwahrscheinlich wirkt der Gedanke, diese Menschen würden in die Altstadt zurückziehen, wenn deren Rekonstruktion einst vollendet sein sollte. Ihre Erinnerungen werden verblassen. Und irgendwann wird es auch keine Nostalgie mehr geben.

Man versteht den Impuls, der nach jeder Naturkatastrophe in Italien sagt: Es soll werden, wie es war. Aber diese Rück- oder Wiederkehr ist eine Schimäre. Anders gesagt: Selbstverständlich wird es eines Tages eine neue Altstadt geben. Aber sie wird erst dann wieder Altstadt sein, im eigentlichen Sinn, wenn es niemanden mehr gibt, der sagen könnte, früher sei es hier schöner gewesen.

© SZ vom 11.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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