Schauplatz Istanbul:Ein Stockwerk Sehnsucht

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Grauer Himmel über der Stadt, Erinnerungen an die bunten Drachen der Jugend, in einer Installation in einem schönen über hundert Jahre alten Bau.

Von Christiane Schlötzer

Der Winter kommt früh nach Istanbul, dann versinkt die Stadt oft tagelang im Regen, der Himmel ist grau und schwer. Die großen Modegeschäfte auf der Istiklal verteilen Plastikschläuche an ihre Kunden, für die Schirme, damit sie nicht alles volltropfen. Die Istiklal ist Einkaufsrennbahn und große Bühne, die Darbietungen der Straßenmusiker sind meist Mitsingangebote. Die Straße ist auch ein Ort der Wunderdinge, weil hier zwischen all dem Kommerz und den Kettenläden alte Paläste von eindrucksvoller Schönheit stehen, die abzureißen offenbar als zu großer Frevel betrachtet würde. Einige wurden zuletzt gar sorgfältig restauriert. Besonders schön ist die Suriye Pasaji, ein mächtiges neoklassisches Ensemble, gerade 110 Jahre alt geworden, erbaut im Auftrag eines gewissen Hasan Halbuni Pasa, der aus Syrien stammte (daher der Name). Der Architekt war Demetre Th. Bassiladis, also wohl Grieche. Eines der ersten Kinos der Türkei war hier. Betritt man heute die Passage und schaut nach oben in den Himmel, dann sieht man über sechs Stockwerke verteilt Dutzende rote, blaue und grüne Papierdrachen an langen Fäden durch die Luft schweben. Diese Installation hat der Architekt und Maler Erdoğan Altindiş angebracht, ein Plakat verweist auf eine dazugehörige Ausstellung (bis April 2019) im vierten Stock. "Özlem", Sehnsucht, heißt sie. Zu sehen sind noch mehr kunstvolle Drachen. Der Roman "Drachenläufer" von Khaled Hosseini spielt in Afghanistan. Man hätte auch in der Türkei junge Helden für eine solche Geschichte gefunden. Drachenbauen ist ein altes türkisches Spiel. Altindis hat es gewählt, um Kindheitserinnerungen an eine Türkei darzustellen, in der die ersten Gastarbeiter aus Deutschland Grundigradios mitbrachten. Altindis, heute Mitte 50, wuchs in Kayseri auf, das ziemlich genau in der Mitte des Landes liegt. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt sechs Jungs, auf dem Schutt armenischer Häuser, eines der Kinder trägt ein T-Shirt mit türkischer Flagge. "Die Trümmer sind zu verkaufen", steht auf einer Mauer. Für den Ausstellungsmacher ist dieses Bild "ein Mahnmal für den Umgang mit Minderheiten".

Er wollte "keine politische Ausstellung" machen, sagt er, nur etwas gegen seine "Depression" tun. Und die kommt woher? Da wird es dann doch politisch. "Fantasie kann mehr bewegen als die direkte Konfrontation", sagt der Künstler. Früher hat er mit seiner Frau, einer Innenarchitektin, Wohnungen an Touristen vermietet. Hipster aus Berlin und Fotografen aus New York haben sich bei ihm die Klinke in die Hand gegeben. In den letzten zwei, drei Jahren sind die Gäste fast alle weggeblieben. Jetzt kommen wieder ein paar, klopfen auch bei Altindis an, fragen, ob er noch ein Apartment für sie hat. Dann lächelt er und nimmt die Besucher mit über eine Brücke, die in lichter Höhe über die Passage führt, in eine riesige alte Wohnung. Deren Wände sind so bunt bemalt wie die Drachen. Und er gibt ihnen einen Pinsel, und sagt: "Malen."

© SZ vom 28.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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