Schauplatz Bern:Die Ministerin in der vierten Reihe

Lesezeit: 1 min

Schweizer Politiker tragen Lederjacke, hocken sich in New York auf den Bordstein und sind auch sonst angenehm bescheiden.

Von Isabel Pfaff

Das Kino Rex in der Berner Schwanengasse ist ein Kleinod. Zwei Säle, ein Foyer mit Bar, alles sorgfältig im Fünfzigerjahre-Stil renoviert. Das Programmkino zeigt Globales und Lokales, Seltenes und Preisgekröntes. Ein feiner Ort, passend zur Bundesstadt, in der alles überschaubar und doch irgendwie mondän ist.

Neulich Abend zeigt das Rex "Alles ist gut" von Eva Trobisch, die Geschichte von Janne, die vergewaltigt wird und danach so weitermacht, als sei nichts geschehen. Anlass der Vorführung ist der Schweizer Frauenstreik, der das Land zwei Tage später in Atem halten wird.

Als der Film zu Ende ist, bleiben alle sitzen. Angekündigt ist ein Gespräch mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga, der Umweltministerin, die bis vor Kurzem noch Justizministerin war. Man sitzt im Saal und wartet, dass sich die Tür für sie öffnet oder dass sie sich von einem Platz in der ersten Reihe erhebt. Nichts dergleichen. Sommaruga, Kurzhaarfrisur und Lederjacke, hat sich den Film von der vierten Reihe aus angesehen.

Das Gespräch mit ihr dreht sich um ihre Arbeit im Frauenhaus während des Studiums, um das Ausmaß sexueller Gewalt in der Schweiz, und darum, was sie am Streiktag machen wird ("schon ein bisschen arbeiten"). Ihr Auftritt ist erstaunlich bescheiden. Sie zählt zwar auf, welche Reformen sie in ihrer Amtszeit für Frauen angestoßen hat. Doch nichts an ihr erinnert an das Auftrumpfen deutscher Politiker. Als eine Frau fragt, wann endlich der "Nein heißt Nein"-Grundsatz ins Schweizer Strafrecht aufgenommen werde, hätte die Sozialdemokratin die Gelegenheit nutzen und gegen ihre Nachfolgerin im Justizministerium wettern können, eine Politikerin der FDP. Doch Sommaruga bittet höflich, das Kollegial-Prinzip zu respektieren - jene schweizerische Besonderheit, nach der die Regierung einstimmig auftritt und so gut wie keine Differenzen nach außen kommuniziert.

Schweizer Regierende, das erfährt man im Rex, sind angenehm anders. Nicht nur Sommaruga verzichtet auf Profilierung und Politiker-Pomp. Eine andere Ministerin wurde dabei beobachtet, wie sie sich wegen Platzmangels auf die Treppe des IC zwischen Bern und Zürich setzte. Alain Berset, heute Innenminister, nahm letzten Herbst auf einem Bordstein vor dem New Yorker UN-Hauptquartier Platz, um sich Notizen zu machen. Nahbar und doch weltläufig: Bern und seine Politiker, so denkt man im Kino, sind sich gar nicht unähnlich.

© SZ vom 19.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: