Schauplatz Berlin:Mitspielen im Radialsystem

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Angekündigt ist ein Konzert- und Tanzabend. Beim Warten auf den Beginn verpasst das Publikum beinahe den Anfang.

Von Gustav Seibt

Die Frage, wie ein Theaterabend anfangen soll, war irgendwann einmal gelöst worden: Es gibt eine muntere musikalische Ouvertüre, während derer die Stimmen im Publikum verstummen, dann geht der Vorhang hoch, und es wird entweder gesungen oder gesprochen. Tempi passati! Aus Ouvertüren wurden "Vorspiele", gedankenreiche Vorwegnahmen, die absolute Konzentration erforderten: Tristan-Akkord, wogendes Es-Dur für das "Rheingold"! Das Publikum hatte da schon vollkommen ruhig zu sein, um den Aufstieg des Klanges aus dem Nichts der Tonlosigkeit erfahren zu können.

Nun hat das "Radialsystem" in Berlin das uralte Problem des Anfangs neu durchgespielt. Sinnigerweise bei einem musikalischen Abend, der mit Richard Wagners Vorspiel zu "Tristan und Isolde" begann, um dann übergangslos mit Rebecca Saunders' Violinkonzert "Still" (englisch "noch" und "still") weiterzugehen.

Das Publikum drängte sich an den Rändern, plaudernd, laut, wie betagte Kinder

Das "Radialsystem", die interessanteste Spielstätte für zeitgenössische Musik in Berlin, ist in einem umgebauten wilhelminischen Pumpwerk an der Spree untergebracht: herrlich, vor allem auch der Blicke auf den Fluss wegen. Hier, am Fluss, sammelte sich das sommerabendliche Publikum zu einem Konzert- und Tanzabend mit Wagner, Saunders und Alban Berg, gespielt von der "Jungen Philharmonie", dirigiert von Sylvain Cambreling, choreografiert von Antonio Ruz: Mehr war vorher nicht bekannt.

Man wurde eingelassen, wie üblich zu freier Platzwahl, aber diesmal noch nicht in den eigentlichen Konzertraum, die alte Industriehalle, sondern in einen turnsaalartigen Vorraum. Dort standen die Künstler, Menschen wie wir, ohne Berufsbekleidung, aufgereiht wie bei einem Gymnastikabend. Wir, das Publikum, drängten uns an den Rändern. Plaudernd, laut, wie betagte Kinder. Wann würde es losgehen? Natürlich wenn die Durchgänge zum Konzertsaal geöffnet würden und alle ihre Plätze gefunden hätten. Wir alle, das Publikum, brauchten Minuten, um zu begreifen, dass die Aufführung längst begonnen hatte, und zwar als sehr langsam ein Musiker und Tänzer nach dem anderen erst seine Schuhe auszog, ordentlich abstellte und dann in den benachbarten Konzertsaal schritt. Noch plauderten wir weiter, bis jemand zischte: "Ich glaube, die Aufführung hat schon begonnen!"

Als alle Künstler den Vorraum endlich verlassen hatten - ihre Schuhe standen verwaist in der Mitte -, konnten wir, die Zuschauer, auf unsere Plätze gehen, erwartet von einem barfüßigen Orchester und dem starr vor dem Notenpult verharrenden Dirigenten. Dann wurde es stockdunkel, sogar die leuchtenden Fluchtsignale waren kurzzeitig verhängt, und aus vollkommener Stille und Schwärze stieg der Tristan-Akkord, dieses Vorspiel aller neuen Musik, empor. So machte die Regie des Abends ein erprobtes Publikum zu Anfängern. Wir spielten, um Goethes "Vorspiel auf dem Theater" zu zitieren, "ohne Gage" mit. Und taten das sehr gern.

© SZ vom 19.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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