Schauplatz Berlin:Die Theodorisierung der Mitte

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Viktor Paul Theodor, Ada Mai Helene, Rufus Oliver Friedrich und Aaron: Die kleine Taufliste zum Jahresanfang ist ein weiterer Beweis für die Gentrifizierung der Stadt, die die Kirchen nicht ausspart.

Von jens bisky

Über 28 Taufen informiert zum Jahreswechsel die evangelische Kirchengemeinde am Weinberg in ihrem Mitteilungsblatt, dem Kirchenfenster. Die Liste beginnt mit Viktor Paul Theodor, Ada Mai Helene, Rufus Oliver Friedrich und endet mit Sophie Charlotte, Ella Maria Lilly sowie Aaron. Kein Ronny, keine Yvonne sind verzeichnet. Je nach Temperament lässt sich die Namenswahl als Teil der Familientradition oder als Zeichen für elterliche Ambitionen verstehen. Kurz vor Weihnachten wurde die Liste bei Facebook gepostet und kommentiert. Namenswitze kann jeder. Die kleine Taufliste fiel auch dem stadtpolitisch engagierten Sozialwissenschaftler Andrej Holm auf, und er bedachte sie auf seinem Gentrification-Blog. Sie lese sich, schreibt Holm, "wie eine Mischung aus FDP-Wahlliste für das Europaparlament und dem Verzeichnis der höheren Beamten des Diplomatischen Dienstes. Der Wortsinn der Gentrification - der ja auf die Wiederkehr des niederen Landadels (der Gentry) in den Städten anspielt - bekommt hier jedenfalls einen unerwarteten Realitätsgehalt."

Das Gebiet der Gemeinde am Weinberg liegt in der Mitte der Stadt, reicht bis an den Rand des Prenzlauer Bergs. Dass sie sich vielfach für Flüchtlinge einsetzt, scheint Andrej Holm entgangen. Es würde schlecht in das Szenario der Gentrifizierung passen, die auch die Kirchen nicht unverändert lasse: "Statt Punkkonzerten und Kiezversammlungen gibt es heute Babypsalmgesang und Adventsbrunch."

Der gesamte Eintrag liest sich, als solle zu einer Demonstration der Patriotischen Berliner gegen die Viktor-Ada-Oliverisierung des Stadtlandes aufgerufen werden. Das Wohnen im Gemeindegebiet ist in der Tat teuer geworden. Sehr viele haben die Freiheit nach dem Fall der Mauer für solche Unverschämtheiten wie einen Umzug in die neue Mitte genutzt. Wer offenen Auges durch die mal hübsch, oft unbeholfen herausgeputzten Straßen geht, wird vieles sehen, was der populären These sozialer Vereinheitlichung widerspricht. Und auch manches, was den Unheilstrend zum Leben in gated communities bestätigt. Aber es geht ja bei Gentrifizierungsthesen nicht um die Wirklichkeit, sondern um ein Drehbuch, das die Begegnung mit ihr erspart.

Auf der Liste der "100 peinlichsten Berliner", mit der das Stadtmagazin Tip uns alljährlich beglückt, stehen diesmal Vornamen wie Monika, Frank, Hartmut, Ken, Ben, Lars, Steven, Klaus und Kai. Es gibt Gründe genug, sich auf bessere Jahre mit Sophie Charlotte und Rufus Oliver Friedrich zu freuen.

© SZ vom 02.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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