Schamrock-Festival:Zusammen sind sie weniger allein

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Wie eine indische, eine lettische und zwei griechische Dichterinnen die Vielfalt des Schamrock-Festivals repräsentieren - eine Begegnung

Von Antje Weber

Kann eine Ameise fliegen? Nein, kann sie nicht, so schreibt es zumindest die Inderin Rati Saxena mit dichterischer Freiheit. Aber die Ameise kann es versuchen, und wenn es ihr gelingt, hat sie vielleicht den Boden für die nächste bereitet: "Sie hat die Saat des Fluges für die nächste Generation ausgesät."

Das Unmögliche denken, das Unmögliche tun: Das Gedicht "Die Flügel einer Ameise" hat eine unmissverständliche Botschaft, und der Inderin Rati Saxena ist das wichtig. "Das ist meine Pflicht als Schriftstellerin", sagt sie, "ich finde es egoistisch, wenn ich Poesie nur für mich schreibe." Sie sagt dies in Richtung der Griechin Ewa Boura, die ihr in der Bar der Pasinger Fabrik schräg gegenüber sitzt - nur einen Meter entfernt und doch Welten. Pflicht? Aufgabe? Solche Worte kämen Ewa Boura nie über die Lippen: "Für mich ist Poesie etwas sehr Intimes, ein Spiel mit dem Material." Das Wichtigste ist für sie der Sound: "Poesie ist Klang."

Damit wären bei diesem Gespräch im Vorfeld des Schamrock-Festivals schon mal die am weitesten voneinander entfernten Pole abgesteckt. Vier Dichterinnen sitzen an diesem Mittag in Pasing beisammen und machen deutlich, welch breites Spektrum beim dritten Festival der Dichterinnen zu erwarten ist. Sie stammen aus Griechenland, Lettland und Indien, sie verkörpern damit die Länderschwerpunkte - außer Indonesien - dieses Festivals. Sie kommen, in jeder Hinsicht, aus unterschiedlichen Ecken.

Selbst die beiden Griechinnen am Tisch sind keineswegs ähnlich geprägt. Ewa Boura, in Thessaloniki geboren, wohnt seit fast dreißig Jahren in Berlin-Kreuzberg und schreibt auf Deutsch; wenn sie nicht dichtet, arbeitet sie in der Psychiatrie: "Ich brauche diese Pausen." Ihre jüngere Lyrik-Kollegin Georgia Triantafyllidou wiederum lebt in Kavala in Griechenland, arbeitet dort als Journalistin und reagiert auf Nachfragen zur Krise etwas gereizt: "Wir haben immer Krise, man lebt sie, man beschreibt sie, da geht jeder durch." Warum sie Lyrik verfasst? "Die Poesie hilft mir, mich selbst zu verstehen."

Liāna Langa, Georgia Triantafyllidou, Rati Saxena und Ewa Boura (von links). (Foto: Alessandra Schellnegger)

Was Krisen sind, weiß auch Liāna Langa aus Riga in Lettland bestens. Als sie zwölf Jahre alt war, öffneten ihr Gedichte die Tür zu einem anderen Leben. "Es war 1972, um uns herum die tiefe Stagnation der Sowjetunion, lauter Lügen - da hat mir ,Das trunkene Schiff' von Rimbaud das Hirn durchgeblasen. Ich verstand nicht alles, doch das war eine so andere Sprache, dass ich dachte: Ich will in dieser Welt leben, in dieser Sprache!" Liāna Langa hat das erreicht, heute ist sie in Lettland eine bekannte Schriftstellerin, sie leitet einen Verlag, gibt eine literarische Zeitschrift heraus und reflektiert klug den Prozess des Dichtens: Der sei "irrational und präzise" zugleich. Und Langa kann Vorbildliches aus Lettland berichten: Dort würden Autoren über eine Kulturstiftung regelmäßig unterstützt. Denn "keiner überlebt als Lyriker"; Langa selbst hat lange in der PR gearbeitet, hält das inzwischen jedoch für "sinnlos". Derzeit orientiert sie sich neu: "Ich stehe an einer Wegkreuzung."

Diesen Satz würde Rati Saxena aus Kerala wahrscheinlich in Hinblick auf die gesamte indische Gesellschaft unterschreiben wollen. Sie spricht jedoch nicht von Wegkreuzung, sie schimpft vielmehr ungebremst los. Die Situation in ihrem Land sei fürchterlich, "schlimmer als in China", sagt sie, es gebe so viele soziale und politische Probleme; dass zum Beispiel Frauen verbrannt würden, sei ja nicht nur Vergangenheit, sondern immer noch üblich. Jahrzehntelang hat sie selbst gelitten, hat "wie in einem Gefängnis" gelebt. Bis sie anfing zu schreiben: "Ich schrieb, ohne zu wissen, dass ich Lyrik schreibe", sagt sie, "die Poesie gab mir Stärke."

Heute führt Rati Saxena ein Leben, das eng um die Dichtung kreist. Sie hat elf Gedichtbände veröffentlicht, ist Sanskrit-Gelehrte, leitet das internationale Kritya-Festival für Poesie. Und hat doch immer noch Probleme zu bewältigen: Die Stimmung in Indien sei kulturfeindlich, beklagt sie, es sei schwierig, überhaupt ein Buch zu publizieren; auch ihr Festival erhalte keine Unterstützung, weil sie sich nicht mit Politikern anfreunden wolle. Jederzeit könne man als Autor ins Gefängnis kommen, wenn man nicht zur genehmen Bollywood-Kultur gehöre: "Man muss kämpfen, immer kämpfen." Einen Rückzugsraum immerhin gibt es auch für Rati Saxena: "Die Poesie ist die Seele meines Lebens."

Diese Poesie mit anderen teilen zu können, erfordert noch eine weitere Form von Kampf. Denn wie sollen die vier Lyrikerinnen, die da gerade stellvertretend für 50 Festival-Teilnehmerinnen diskutieren, die Gedichte und Gedanken der anderen verstehen - wenn nicht durch Übersetzungen? Und geht in diesem Prozess nicht gerade bei Lyrik viel Feinstoffliches verloren, lost in translation? Gewiss, sagen die Dichterinnen; auch beim Programmpunkt "Poets translating poets" des Goethe-Instituts wird dies ein Festival-Thema sein. Doch immerhin vermitteln Übersetzungen das "Gefühl zu kommunizieren", wie die Griechin Georgia Triantafyllidou am eigenen Material erlebt hat. Und Rati Saxena sagt, allein in Indien gebe es 28 Sprachen; sie deutet den Nachteil als Vorteil: "Durchs Übersetzen bereichere ich meine Sprache." So entdeckt man auch Übereinstimmungen, derer man sich sonst nicht bewusst wäre. Tief in der Sprache schlummernde Verwandtschaften zwischen dem Lettischen und dem Sanskrit zum Beispiel: 800 lettische Wörter, sagt Liāna Langa, besäßen Sanskrit-Wurzeln. Und die bestätigend nickende Rati Saxena ergänzt, dass die indische Tradition ähnlich stark wie das Lettische von Volksliedern geprägt sei.

Es scheint also mehr Gemeinsamkeiten zwischen zunächst fremd wirkenden Sprachen, Gedichten, Dichterinnen zu geben, als man zunächst vermuten würde. Die größte Einigkeit jedoch: Sie alle freuen sich auf das Festival, auf den Austausch mit anderen Lyrikerinnen. "Familie" nennt es die Inderin, eine Griechin bejaht heftig. "Anders als in der Prosa-Szene verdient man kein Geld, es gibt daher weniger Wettbewerb und Intrigen", sagt Liāna Langa. "Die Gesellschaft der Dichter ist die beste Gesellschaft", findet die Lettin. Zusammen ist man weniger allein.

© SZ vom 26.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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