Sasha Marianna Salzmann:Bitte warten Sie

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Sasha Marianna Salzmann ist mit Theaterstücken und den Romanen "Außer sich" und "Im Menschen muss alles herrlich sein" bekannt geworden. Soeben ist Salzmann mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet worden. (Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag)

Menschen kommen aus der Ukraine mit nichts als ihren Geschichten. Aber wie kann man hier an Literatur denken, wie schreiben, solange der Krieg die Gegenwart bestimmt?

Von Sasha Marianna Salzmann

Sasha Marianna Salzmann ist mit Theaterstücken und den Romanen "Außer sich" und "Im Menschen muss alles herrlich sein" bekannt geworden. Soeben ist Salzmann mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet worden. (Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag)

Es gibt keine Gedichte über Krieg. Es gibt nur Zersetzung, heißt es bei der Dichterin Lyuba Yakimchuk. Also zerlegt sie die Wörter: Lu-hansk; Don-basssss; und zum Schluss des Gedichts ihren eigenen Namen: Nicht mehr Lyuba steht dort, sondern nur noch "ba!". Wobei die Formulierung "zerlegt sie" falsch ist, denn die Wörter, die Orte, die Menschen sind bereits zerlegt, Yakimchuk schreibt nur auf, was stattfindet. "Sprache ist so schön wie die Welt, die sie umgibt. Wenn jemand deine Welt zerstört, wird es die Sprache reflektieren", sagt die in der Donezk-Region geborene Autorin. Sie versteht sich als literarische Nachfahrin von ukrainischen Futuristen wie Mykhailo Semenko, der die Dekonstruktion in die ukrainische Lyrik brachte und, wie so viele andere Dichterinnen und Dichter in den Jahren des Stalin-Terrors, erschossen wurde.

Es gibt keine Gedichte über Krieg. Nur Zersetzung. Ich habe in den letzten Monaten versucht zu schreiben. Nicht über den Krieg. Einfach nur zu schreiben. Zwischen Telefonaten auf der Suche nach Wohnungen für Menschen, die fliehen. Auf der Suche nach Medikamenten, aufblasbaren Matratzen, Kinderschuhen, Badesachen, den passenden SIM-Karten. Ich hing in der Warteschleife des Bürgeramts, weil über die Hotline für Ukrainische Flüchtlinge niemand erreichbar war und ich also immer und immer wieder weitergeleitet wurde. Eine verlangsamte Version von "The Sunsilk Girl" zersägte mir das Ohr, während ich auf das leere Blatt auf dem Desktop meines Laptops starrte und dachte, in der Zeit, in der ich warte, könnte ich doch ein paar Zeilen schreiben. Als sich schließlich, nach knapp zwei Stunden Warten, Fragen und Weitergeleitet-Werden, ein Beamter verplapperte und sagte: "Hören Sie, ich kann Sie weiterverbinden, aber die Kollegen haben die Anweisung, es klingeln zu lassen", legte ich auf. Ich starrte wieder auf das leere Blatt vor mir. Jetzt, genau jetzt, könnte ich doch etwas schreiben.

Mit Valeria war ich in den Wochen seit ihrer Flucht viel im Austausch - wir gingen zusammen zur ärztlichen Untersuchung ihres achtjährigen Kindes, wir saßen zusammen über Anmeldeformularen, aber auch in Parks, aßen Croissants aus Papiertüten und redeten über die schöne Stadt Kiew, in die sie nicht allzu lang vor der Kriegserweiterung aus dem Osten des Landes gezogen war. Valeria sagte, die vielen Stunden auf den Ämtern bringen ihr durchaus etwas, sie lerne Deutsch. Ihren ersten Satz könne sie schon: "Bitte warten Sie."

"Haben Sie auf dem Weg irgendwelche Verbrechen gesehen?"

Es gibt keine Gedichte über Krieg. Ich habe versucht, ein paar Zeilen zu verfassen, in der Bahn, auf dem Weg zu Tatjana. In den ersten Wochen der Belagerung von Mariupol hatte sie den Kontakt zu ihrer Mutter verloren, dann, nach sechzehn Tagen Funkstille, kam das erste Lebenszeichen. Man habe die Mutter wiedergefunden: Sie war zu Fuß durch das Kriegsgebiet über die Grenze nach Russland geflohen. Aus Mariupol war sie nach Rostow am Don gegangen. Es seien zu Fuß 36 Stunden (180 km), sagt mir Google Maps. Wenn man ohne Pausen geht und wenn kein Krieg herrscht. Tatjanas Mutter ist dreiundsiebzig. Die Russen hätten sie am Aufnahmestützpunkt hilfsbereit empfangen, nur eine Frage sei ihr seltsam vorgekommen: "Haben Sie auf dem Weg irgendwelche Verbrechen gesehen?" Dann gaben sie ihr Tee und setzten sie in einen Evakuierungsbus Richtung Moskau. Tatjanas Mutter hat es über Vilnius und Warschau nach Deutschland geschafft, nun sitzt sie bei Tatjana in der Wohnung und erzählt, die Ukrainer hätten sie und ihr Haus beschossen. Die Ukrainer hätten Bomben auf sie geworfen, Raketen auf sie abgefeuert, ihren Garten zerstört. Es waren nicht die Russen, es waren die Ukrainer, sie weiß es, so war es im Radio durchgesagt worden.

Die Oberfläche des Wassers in Tatjanas Glas zitterte. "Aber weißt du", schob sie nach, "ich kann mir ja noch auf die Zunge beißen, aber wie soll Rita ruhig bleiben?" Rita ist Tatjanas ältere Schwester. Sie war eine Woche vor ihrer Mutter aus Saporischschja geflohen, sie musste ihren Sohn und ihren Mann zurücklassen, die sich der Stadtverteidigung angeschlossen hatten.

So sitzen die beiden Schwestern Tag für Tag vor ihrer dreiundsiebzigjährigen Mutter, die zu Fuß über halb zerstörte Brücken und verminte Felder gegangen war und jetzt ihren Töchtern erklärt, die Russen wollten Frieden.

Vielleicht packt die Mutter ein paar alte Geschichten aus, um die Flucht vergessen zu können

Es gibt keine Gedichte. Valeria ruft an und sagt, sie geht zurück. Sie packt ihren achtjährigen Sohn ein und geht nach Lwiw. Dort seien ihr Mann und ihre Mutter und ihre Großmutter. Es sei alles egal, die Grenzen, die Raketen, der Alarm. Sie könne hier in Berlin nicht atmen, es sei besser, bei der Familie zu sein. "Dann warte wenigstens den 9. Mai ab, in Ordnung?", bitte ich sie. "Warte den Tag des Sieges ab. Wer weiß, was er dieses Jahr bedeuten wird."

Dann denke ich an das beamtendeutsche "Bitte warten Sie" und schlucke.

In der "Tagesschau" heißt es: "Allein über die polnische Grenze würden jeden Tag rund 20 000 Menschen in die Ukraine zurückgehen, darunter auch Geflüchtete, die zuvor in Deutschland Schutz gesucht hatten."

Es gibt keine. "Hat sie sonst etwas erzählt?", traute ich mich nach einer Weile Tatjana zu fragen. "Deine Mutter muss doch irgendetwas anderes gesagt haben, außer dass die Ukrainer sie beschossen und die Russen ihr Tee gegeben haben." Ich hoffte, dass die Mutter vielleicht ein paar alte Geschichten ausgepackt hatte, um die Flucht vergessen zu können. Vielleicht, dachte ich mir, hat sie ja auch etwas Schönes erzählt, zum Beispiel, wie glücklich sie sei, ihre Töchter wiederzusehen. "Sie hat erzählt, wie viele Irre sie gesehen hat auf dem Weg durch das zerstörte Mariupol", sagte Tatjana, und: Sie habe mehr Verrückte als Leichen gesehen, Verrückte, die durch die Straßen pendelten. "Wie kaputte Kompassnadeln."

"Aber ich bin doch ... Nein, es ist nicht so, wie Sie denken!"

Es gibt. Die Freundin einer Freundin ist mit fünf Katzen aus Odessa geflohen. Meine Freundin fragte sie: "Aber Moment mal, du hattest doch auch einen Koffer dabei. Wie also hast du denn dazu noch fünf Katzen transportieren können?" "Ich weiß es nicht", sagte ihre Freundin. "Ich kann es dir nicht beantworten. Ich erinnere mich an nichts. Ich weiß nur, ich nahm eine große Schere, bohrte Löcher in meine Reisetasche, und ab da erinnere ich mich an nichts."

Nur Zersetzung. Der zweiundzwanzigjährige Bruder einer Freundin aus dem Gebiet Luhansk wurde eingezogen. Er sollte einen Posten bewachen. Die Gegend wurde eingekesselt. Er hat einen kaputten Rücken, seit seiner Kindheit schon. Eigentlich war er ausgemustert.

Es. Die Schmierereien, die die Schlächter von Butscha auf den Fassaden der Häuser hinterlassen haben: "Wer hat euch ein schönes Leben erlaubt?" und: "From Russia with love".

Butscha. Irpin. Mariupol. Trostjanez. Popasna.

Butscha. Borodjanka. Andrivka. Worsel.

Butscha. Tschernihiw. Wojewodiwka.

Butscha. Dass der Ort doch tatsächlich so heißt.

Butcher.

Keine Gedichte. Ich bin zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, die die Rolle der Kunst in Zeiten des Krieges eruieren soll. Der Regisseur aus dem Donbass, mit dem ich zusammen auf die Bühne gehe, fragt mich auf dem Flur: "Wer ist denn für die russische Seite hier?" Ich antworte, dass ich es nicht weiß. Er fragt, wo ich geboren sei. Ich schaue ihn an. "In Wolgograd. Aufgewachsen in Moskau." "Na also", sagt der Regisseur und geht weiter. Ich spanne jeden einzelnen Muskel in meinem Körper an, um ihm nicht hinterherzuschreien: "Aber ich bin doch ... Nein, es ist nicht so, wie Sie denken!"

Wir setzen uns auf unsere Stühle. Die Moderatorin fragt: "Können Sie gerade schreiben?"

"Danja, erzähl mir von Czernowitz!", bat ich ihn bei der Feier

Zersetzung. Lyu-ba! Sa-sha. Dan-ja, Em-ma-ma-ma. Dieses Jahr feierte mein Großvater Daniil, genannt Danja, seinen 85. Geburtstag. Eine Pianistin, die ihr Repertoire voll aus der Sowjetnostalgie schöpfte, spielte für ihn: "Я вам не скажу за всю Одессу / Вся Одесса очень велика / Но и Молдаванка и Пересыпь": Ich kann nicht für ganz Odessa sprechen / ganz Odessa ist so riesig/ Aber in Moldawanka und Peresypj ...

Das Lied handelt von den zwei Gaunerbezirken in Odessa, aus denen meine Urgroßeltern stammen. Mein Urgroßvater Sasha, dessen Namen ich trage, und meine Urgroßmutter Etinka, die dieses Jahr 105 geworden wäre. Das sind die Eltern von Emma, der Frau des Jubilars, die vor 60 Jahren Danja in Czernowitz heiratete. Zum Standesamt zog die halbe Stadt durch die Straßen und musizierte und feuerte meine Großeltern an, so zumindest die Familienlegende. "Danja, erzähl mir von Czernowitz!", bat ich ihn bei der Feier. "Was war das Beste an Czernowitz?" Danja lächelte, wie er immer lächelt, wenn er an Emma denkt (wie Al Pacino), und sagte: "Deine Großmutter." Emmas Gesicht leuchtete auf, als hätte ein Schmetterling seine Flügel aufgeschlagen. Aber dieses Mal tischte niemand Familienlegenden auf. Danja fing an, sich die Augen zu reiben, murmelte, dass sie, Emma und er, wie zahllose Emigranten auf der ganzen Welt, stets Geld nach Czernowitz geschickt hätten, damit die Gräber der Vorfahren sauber gehalten wurden, aber jetzt-"

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Ich versprach, nächstes Jahr mit meiner Frau hinzufahren, den Grabstein seiner Eltern zu suchen und ihn sauber zu waschen. "Die Inschriften sind auf Hebräisch", fügte Danja hinzu. "Aber ihr werdet ihn schon finden." "Nächstes Jahr in Czernowitz", sagte ich, wie es die Juden gerne tun, wenn sie bei ihren Feiern mit "Nächstes Jahr in Jerusalem!" anstoßen, wissend, dass das Jerusalem, auf das sie ihr Glas heben, längst nicht mehr da ist. Und so nie mehr entstehen wird.

Setz-ung. Eine Freundin, die aus Moskau geflohen ist, zeigt mir auf ihrem Telefon ein Video: Militärflugzeuge in der Formation eines "Z" markieren immer wieder den Moskauer Himmel. Sie sagt: "Die Welt teilt sich in jene, die Pläne machen, und die, die das nicht mehr tun."

Und spätestens da verstehe ich, was mir abhandengekommen ist: Zukunft denken zu können.

Dieser Text ist der erste Teil von Sasha Marianna Salzmanns Einführung in das internationale Festival " Mit Sprache handeln ", das vom 23. bis 25. Juni im Literarischen Colloquium Berlin stattfindet.

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