Lyrik:Perikles und die Schwarze Pumpe

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Paradoxien der Reue: Sascha Anderson taucht mit einem neuen, zeitentrückten Gedichtband wieder auf. Wie geht dieser Autor, der in Ost-Berlin Kollegen bespitzelte, mit der Vergangenheit um?

Von Tobias Lehmkuhl

Man würde so gerne über Sascha Andersons Gedichte schreiben, ohne über Sascha Anderson, und das heißt über jenen von Wolf Biermann sogenannten "Sascha Arschloch" schreiben zu müssen. Aber sein Verrat war so ungeheuerlich, sein tiefer Fall von solch antikem Ausmaß, dass man es eben nicht unerwähnt lassen kann: Dass er seine Freunde und Kollegen in Ostberlin bespitzelte, sie an die Stasi verriet und sich dabei selbst als dissidentischen Künstler reinsten Wassers inszenierte.

Doch wie sollte einem Rezensenten solch ein Kunststück nonchalanter Nichterwähnung gelingen, wenn der Dichter selbst nicht in der Lage dazu ist, mit der eigenen Vergangenheit abzuschließen? Zwar geht es nicht um Verrat und Wut und Reue in Andersons neuem, schmalem Gedichtband, aber jener Epochenbruch, der für Anderson, der inzwischen 65 Jahre alt ist, eben auch zum eklatanten Lebensbruch wurde, ist hier allgegenwärtig. Zeit der Handlung, könnte man sagen, würde es sich um ein Prosastück handeln (und zum Teil handelt es sich um ein solches), sind die späten achtziger und frühen neunziger Jahre.

Doch selbst wenn der Dichter sich mit der Nennung von Jahreszahlen zurückgehalten hätte, würde es sich bei "So taucht Sprache ins Sprechen ein, um zu vergessen" unverkennbar um ein Buch handeln, das ganz und gar aus dem Geist der Zeit geschrieben ist. Die Gegenwart der zweitausender Jahre taucht nur einmal in aller Deutlichkeit auf: Als Youtube erwähnt wird. Aber auch Youtube dient dem lyrischen Ich einzig dazu, sich die Trauerrede anzusehen, die Alexander Kluge bei Heiner Müllers Begräbnis gehalten hat.

Es bleibt völlig offen, wonach diese Gedichte suchen, was Frage oder Antrieb sind

Heiner Müller ist, eine Frage des Sounds, ohnehin omnipräsent in diesem schmalen Band: Sowohl in den harten Hexametern als im strengen Blocksatz der Prosastücke meint man ihn zu hören, im Querschneiden antiker Philosophie mit den Mühen der sozialistischen (Industrie-)Gesellschaft. Die Werktätigen der Schwarzen Pumpe stehen hier in direkter Nachbarschaft zu den Werken Epikurs und Augustinus'. Die Vorliebe speziell für die römische Antike teilt Anderson mit seinem Generationsgenossen Durs Grünbein.

Wo Grünbein aber gerne in ein leichtes lyrisches Parlando verfällt, scheint bei seinem verfemten Kollegen doch immer ein Spur Bitterkeit um die Mundwinkel zu spielen: "Dass anderen Lob gezollt wird, erträgt der Mensch/ nur insofern, als er für seine Person sich befähigt/ meint, etwas von dem, was er gehört hat, zu leisten,/ habe Perikles, schreibt Thukydides, am Grab/ der Gefallenen im ersten Jahr des Peloponnesischen/ Krieges gesagt."

So verschachtelt sind die Verse bisweilen, dass die im selben Gedicht auftretenden Punk-Autorin Kathy Acker sicher mit dem Kopf geschüttelt hätte. Gleichwohl dient Acker hier als Ausweis für die wilden Jahre der Wiedervereinigung, die Jahre in denen so vieles möglich schien, sich für viele aber so wenig verwirklicht hat.

Besagtes Perikles-Acker-Gedicht, das die Jahreszahl "1992" im Titel trägt, geht offenbar zurück auf eine Reise, die Anderson gemeinsam mit der Amerikanerin und dem Dichterkollegen in jenem Jahr nach Weimar unternahm (die Chiffre "Frauenplan 1" wird in den Anmerkungen etwas überflüssig erläutert). Auch ein paar andere Autorinnen aus dem angelsächsischen Raum treten auf, Buchenwald wird natürlich erwähnt, das Internet wird, als würde die eigene Erinnerung nicht reichen, konsultiert, um Kathy Acker noch einmal "auferstehen" zu lassen, und nach der Thukydides-Paraphrase folgt bald der Satz: "Kein Zweifel, eine/ Permutation wie Gruppensex, ein Exkurs zu den/ Analogien der Parallelrevolution."

All das wirkt so sperrig wie überladen, zudem raunend und bedeutungshuberisch. So bleibt völlig offen, wonach diese Gedichte eigentlich suchen, was hier die Frage oder der Antrieb sind, die im Zentrum eines jeden Gedichts stehen sollten.

Eines über die Reue übrigens findet sich in "So taucht Sprache ins Sprechen ein, um zu vergessen" dann doch. Es heißt bezeichnenderweise "Paradoxien der Reue" und entwirft das Bild eines Hundes, der vor einem Teller Suppe steht, die "vieldeutig" riecht. Man darf von Gedichten nicht Eindeutigkeit erwarten. Aber diese hier riechen doch allzu sehr nach gewollter Verrätselung.

© SZ vom 06.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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