Salzburger Festspiele:Trinkt noch nicht

Lesezeit: 3 min

Gefährliche Neunte in Salzburg: Riccardo Muti dirigiert Beethoven, Kent Nagano erhellt Gustav Mahlers "Lied von der Erde".

Von Wolfgang Schreiber

"Die Zusammenkunft ist kostbar." Salzburgs Festspielintendant Markus Hinterhäuser beschwört das für die Musik Unentbehrliche - und erreicht es: real der Raum, präsent die Musiker, das Publikum, fühlbar die Vibrations von Ton und Klang, die Aura - freilich erkauft mit Hygiene, Furcht, halb leerem Saal. Zwei Symphoniekonzerte an einem Tag geben dem Appell Wucht, Riccardo Muti und Kent Nagano, Dirigenten im besten vorgerückten Alter, untermauern ihn mit zwei symphonischen Grenzgängen.

Was weniger klar wird: Muti mit Ludwig van Beethovens Neunter und Nagano mit Gustav Mahlers "Lied von der Erde" formen zwei weit voneinander entfernte Welten, die auf mysteriöse Weise ineinander greifen. Die Brücke für die Verbindung baute Arnold Schönberg. Mahler schrieb sein "Lied von der Erde" deshalb, weil er nach der Achten abergläubisch eine Neunte fürchtete, aber sie dann doch komponierte, sowie Skizzen zur Zehnten anfertigte, auf die sein Tod folgte. "Was seine Zehnte sagen sollte", raunte Schönberg in seiner Rede nach Mahlers Tod, "das werden wir so wenig erfahren wie bei Beethoven und Bruckner." Die Neunte sei die Grenze: "Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe."

Beethovens Neunte als unheilvoller Grenzfall, Drama des Kunstschaffens wie des Lebens? Von solcher Wahrnehmung schienen die Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti nicht berührt zu sein. Der 77-Jährige verkörpert das alte Salzburg, früh zählte er zu Herbert von Karajans Favoriten. Reagierte folglich auf Gerard Mortiers Ideen neuer Opernregie abweisend. Der Traditionalist altmeisterlicher Schule kann mit den Wienern Beethovens Menschheitsappell der Neunten zwar als Kunstdenkmal erbauen - mit ruhig-festen Tempi im eher pauschal wirkenden Maestoso-Kopfsatz und ausgezirkelten Vivace-Scherzo, einem schön durchgeformten Adagio. Aber zum emphatischen Ereignis der Welt-Erschütterung - "Seid umschlungen, Millionen!" - wächst das Stück im Großen Festspielhaus nicht empor. Die Philharmoniker vollführten brillant ihre Kunst instrumentaler Verschmelzung, Wiens Staatsopernchor besang das "Sternenzelt"-Panorama kompakt, machtvoll, nicht als ein Fanal wilder Utopie. Außerordentliche Vokalsolisten (Asmik Grigorian, Marianne Crebassa, Saimir Pirgu, Gerald Finley) gaben Energie, schufen kaum Erleuchtung.

Vor dem "Abschied" beschwören atonale Miniaturen von Schönberg die radikal klingende Leere

Gustav Mahler sitzt im Sommer 1908 in seinem Komponierhäuschen in Südtirol, schreibt Noten und ist im Innern der Welt längst "abhanden gekommen". Außen ging es für ihn noch lärmend zu, im New Yorker Konzert- und Dirigentengetümmel sowie bei der tosenden Münchner Uraufführung der "Symphonie der Tausend". Aber zum Ereignis wird ihm das tragische Gefühl des Abschiednehmens, der Trauer, somit des Aufbegehrens einer irdischen und kosmischen Sehnsucht nach Natur und Dasein, herzzerreißend realisiert in der Neunten sowie im "Lied von der Erde", dem lyrischen Drama.

Kent Nagano, der das große, besonders der Moderne verbundene ORF-Radio-Symphonieorchester Wien zum ersten Mal dirigiert, trifft mit dem Ensemble in Salzburgs Felsenreitschule traumsicher den kammermusikalisch verinnerlichten Ton der sechs Sätze für Tenor und eine Altstimme. Filigrane Klangvisionen der Rückschau, der Erinnerung bäumen sich gelegentlich auf zu Fortissimo-Beschwörungen des gellenden Lebens: "Schon winkt der Wein im gold'nen Pokale / Doch trinkt noch nicht, erst sing' ich Euch ein Lied!" Piotr Beczalas strahlende Tenorkraft dringt über alle Orchesterstimmen weit hinaus. Und Tanja Ariane Baumgartner erfleht mit ihrem weich-berauschenden Alt-Timbre die "Dolcissimo"-Schönheit des Lebens.

Nach dem fünften Lied, dem Piotr Beczala als "Trunkener im Frühling" glänzend ausgelassen, doch immer elegant kontrolliert seine Tenorstimme gibt, erfolgt ein dramaturgischer Bruch, mit jähem Erstaunen im Publikum. Von Anfang an saß da ein Pianist abseits, beschäftigungslos auf dem Podium. Nun tritt er in Aktion. Denn vor dem ausgedehnten sechsten Lied "Der Abschied" führt ein fremder, hier genial hellsichtiger Einschub in eine andere Welt. Von Kent Nagano kennen wir solche Ideen musikalischer Montagen zur Kontrastschärfung und Aufhellung von Sinn und Bedeutung. So hatte er vor Jahren in Berlin das Deutsche Requiem von Johannes Brahms mit kurzen neuen Orchesterminiaturen Wolfgang Rihms kombiniert, verfremdet, neu definiert

Der Pianist Till Fellner spielt jetzt Schönbergs "Kleine Klavierstücke" op.19, sechs atonale Miniaturen. Die Verwunderung: Radikale Reduktion der Töne und Intervalle kann höchste Ausdruckskraft heraufbeschwören, eine Gewalt klingender Leere. Das sechste der Stücke schrieb Schönberg in Gedanken an den soeben gestorbenen Gustav Mahler, ganz wenige Töne in die Tiefe einer Verehrung. Mahlers "Abschied" erlangt nun, nach solchem Ausatmen, die größte Intensität. Vor dem versiegenden, der "lieben Erde" zugerufenen "Ewig, ewig" der verklingenden Altstimme dirigiert Nagano den dissonant geschichteten Instrumentalaufschrei des Orchesters mit äußerster Vehemenz seines Hörens und Gebens. Es folgen: Abstand, Masken, Jubelstürme.

© SZ vom 17.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: