Sakraler Raum:Goldfische im Taufbecken

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Was die Kirchen tun, damit es darin noch schneller bergab geht: Ein englischer Pfarrer möchte in seinem Gotteshaus eine Jahrmarktrutsche aufstellen.

Von Gerhard Matzig

Google, mit "Hel..." gefüttert, spuckt als Suchmaschine erst mal "Helene Fischer Weihnachten" aus. Man muss noch ein "t" investieren, um zum legendären Suff der Beatles und zu den Blasen an den ins Delirium getrommelten Fingern von Ringo Starr zu kommen. Die Band hatte kurz vor Weihnachten 1968, also vor ziemlich genau 50 Jahren, "Helter Skelter" als gewollt "lautesten und härtesten Rocksong der Musikgeschichte" veröffentlicht. Toningenieur Brian Gibson zufolge waren die Musiker dabei "komplett betrunken", John Lennon "traf keine Note", und Ringo Starr schreit am Ende der Aufnahme "I got blisters on my fingers!" Der Rest? Apokalyptisch wimmernde Gitarren auf dem Weg zur Hölle.

Wenn Pfarrer Andy Bryant in einigen Monaten im ostenglischen Norwich die raumfüllend spiralförmige Jahrmarktrutsche wie geplant als temporären Helter Skelter (sinngemäß: "Hals über Kopf" oder "Holterdiepolter") in seinem zwischen 1096 und 1145 erbauten Kirchenschiff eröffnet, dann wäre der scheppernde Song, der sich einerseits auf das Auf und Ab der Liebe und andererseits auf das Holterdiepolter einer Rutsche bezieht, das richtige Intro. Lauter und härter kann das Skandalon laut Daily Mail nicht mehr für Aufruhr sorgen. Der Zeitung zufolge sind einige Bürger in Norwich entsetzt von der Aussicht auf die Jahrmarktattraktion, die auch der Attraktivität der Kirche zugute kommen und entgegen den überall sinkenden Kirchenbesucherzahlen für einen "neuen Blick auf die Dinge" sorgen soll. Die Aktion wird Teil der Initiative "Seeing It Differently". In diesem Zusammenhang soll nach der Rutsche auch ein Dinosaurierskelett aufgestellt werden. "Was kommt als Nächstes", zitiert die Zeitung einen Anwohner, "Goldfische im Taufbecken?"

Besteht die Welt nicht eigentlich schon aus genug Jahrmarkt und Spektakel?

Auch hierzulande kann man die Irritation nachvollziehen. Von der Bikermesse über die Haustiersegnung bis zum Handy-gottesdienst, zur (im Ballett) getanzten Predigt oder zur Kommunion im ICE haben die großen Kirchen ja auch schon fast alles unternommen, um Gotteshäuser bis zur Verzweiflung als zeitgemäß zu präsentieren. Ein Helter Skelter war zwar noch nicht dabei, aber auf die englische Herausforderung sollte die Münchner Asamkirche mit dem Fünferlooping vom Oktoberfest reagieren. Um den Brexit-Gläubigen zu zeigen, was eine echte Gaudi ist. Übrigens gab es auch schon temporär errichtete Kirchen, die in Wahrheit aufblasbare Hüpfburgen darstellten. Und in den Niederlanden ist vor einigen Jahren mal eine zuvor entweihte Kirche als mögliches Bordell diskutiert worden. Die Goldfische im Taufbecken sind nicht das Ende einer Entwicklung, die mehr über die Gesellschaft als über die Kirche aussagt.

Andererseits waren Kirchenräume noch vor wenigen Jahrhunderten immer auch so etwas wie die Marktplätze der Gemeinschaft. Besonders gut lässt sich das auf den im 17. Jahrhundert entstandenen Gemälden des niederländischen Architekturmalers Hendrick van Steenwyck der Jüngere nachempfinden. Seine bekannten Kircheninterieurs, die auch im Louvre oder in der Eremitage in Sankt Petersburg ihr Publikum finden, sind mitunter voller Alltagsszenen, die die Kirchen nicht nur als Orte stiller Einkehr, sondern auch als Plätze eines fröhlichen Miteinanders zeigen. Mal läuft ein Hund durchs Bild, Kinder spielen - und einmal ist sogar die Andeutung eines Picknicks zu erkennen. Manche Szenen sind von flanierenden Menschen, die sich in ihrem Sonntagsstaat präsentieren, bevölkert - andere zeigen Männer beim Disput. Und auch mal beim Kartenspiel. Die Kirche war also in ihrer Geschichte häufig auch zum Gemeinschaftsraum bestimmt. Insofern könnte man die Jahrmarktrutsche oder den Dino als bauhistorische Konsequenz begrüßen. Wäre da nicht der Umstand, dass die Welt außerhalb der Kirchenräume mittlerweile schon aus mehr als genug Jahrmarkt und T-Rex besteht.

Es ist tatsächlich so laut im Leben geworden, in dieser Ökonomie der Aufmerksamkeit, dass leere und leise Räume (und auch das waren die Kirchen immer schon), die den allgemeinen Horror Vacui nicht fürchten, zu seltsamen Exotismen degradiert erscheinen. Tatsächlich sind aber die Kathedralen, Kirchen oder Kapellen so etwas wie die letzten Freiräume einer Welt, die die Lautlosigkeit nicht erträgt, weil sie glaubt, was still ist, ist auch tot. Dem globalen Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom der Gegenwart sollte man die allerletzten Orte, die ohne Holterdiepolter auskommen, nicht auch noch widmen. Die Kirchen werden allerdings wohl auch das überstehen. Und selbst wenn sie irgendwann mal endgültig leer sein sollten: Dann erfinden sie sich vielleicht gerade um diese Leere herum neu. Immerhin: So ein irre rauschhaftes Spektakel ist ein Helter-Skelter-Rutsch auch wieder nicht. Es ist eher ein etwas trauriges Bild für die Sehnsucht nach etwas, wovon man nicht genau weiß, was es ist. Auch wenn es eher ein Beatles-Song als Weihnachten mit Helene Fischer ist.

© SZ vom 19.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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