Sachbuch:Bitte bleiben Sie sachlich!

Lesezeit: 4 min

Der amerikanische Buchhistoriker Robert Darntons hat brillante Fallstudien zur Geschichte der Zensur vom revolutionären Frankreich bis hin zur DDR zusammengetragen.

Von Gustav Seibt

Seit im Netz immer öfter Kommentarfunktionen abgeschaltet werden (beispielsweise, wenn es um Flüchtlinge geht) oder Moderatoren reihenweise Löschungen mit dem Vermerk "Bleiben Sie sachlich" vornehmen, ist wieder viel von "Zensur" die Rede. Aber was genau ist Zensur? Staatliche Überwachung und Kontrolle von Presse und Literatur begleitet die neuzeitliche Großmacht Öffentlichkeit von Anfang an. Schrankenlose Freiheit der Druckerpresse hat es nirgendwo gegeben, selbst demokratische Rechtsstaaten setzen Grenzen, die heutzutage freilich kompliziert ausgehandelt und verfassungsrechtlich abgewogen werden müssen.

Als der Professor und Publizist Lorenz Oken im Großherzogtum Weimar 1816 die soeben verfassungsrechtlich eingeführte Pressefreiheit zu dem Postulat erweiterte, künftig dürften auch Verleumdungen nur noch in dem Medium bekämpft werden, in dem sie vorgebracht wurden, nämlich im Druck, aber keinesfalls polizeilich, verursachte das Goethe buchstäblich schlaflose Nächte: Sehe man nicht, schrieb er in einem Gutachten an den Großherzog, dass damit das Prinzip der "Selbstrache" in den Meinungsstreit eingeführt würde? Und so kam es dann auch nicht - kein Staat dieser Welt überlässt es prinzipiell allein einem Verleumdeten, sich Genugtuung gegen Lügen und Anschwärzungen zu verschaffen. Nun, im Netz herrschen noch weithin solche gesetzlosen Zustände, man arbeitet erst seit Kurzem daran, das zu ändern.

Seine Recherchen zur DDR begann Robert Darnton gleich 1989/90. (Foto: imago stock)

Umso spannender, unterhaltender lesen sich die Fallstudien, die der amerikanische Buchhistoriker Robert Darnton zur Geschichte der Zensur vorgelegt hat. Darnton, ein Fachmann fürs französische 18. Jahrhundert, war 1989/90 Gast am Berliner Wissenschaftskolleg, und er nutzte die Chance der Zeitgenossenschaft - gleich nach dem Mauerfall stellte er sich bei der in Auflösung befindlichen "Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel" der DDR vor und begann mit Interviews, die er kurz danach durch ausgiebige Archivstudien erweiterte. Darntons Bericht von der staatlichen Planung und Lenkung schöner Literatur vor allem in der späten DDR ist das ausführlichste Kapitel seiner dreigeteilten Untersuchung. Die anderen handeln von Frankreich vor der Revolution von 1789 und von der britischen Kolonialherrschaft in Indien um 1900.

Jahrelang dauerte der Kampf um Volker Brauns "Hinze-Kunze-Roman"

Diese beiden Kapitel beschreiben zwei grundsätzliche Möglichkeiten von "Zensur" als literarisch-rechtlicher Praktik: Vorzensur und Nachzensur. Im Frankreich des Ancien Régime brauchten Bücher ein königliches Privileg - dafür wurden sie vorher genau geprüft, oft korrigiert, mit Verbesserungsvorschlägen gar lektoriert, konnten sich dann aber auch eines professionellen Gütesiegels erfreuen, das auch für eine grundsätzliche formale Qualität in Ausstattung und Stil bürgte.

Die königlichen Zensoren stellt Darnton als kompetente, wohlwollende und liberale Fachleute dar, die eigentlich auf Seiten der Autoren standen. Diese amicale Atmosphäre wurde durch den Umstand begünstigt, dass von vornherein Verbotenes gar nicht auf ihre Schreibtische kam; und verboten war in Frankreich nicht in erster Linie die philosophische Literatur der Aufklärung, sondern pornografisches, religiös-ketzerisches, vor allem aber ein Schrifttum, das die herrschende Schicht, den König, seine Mätressen, die Minister anschwärzte. Das Leitgenre dieser verbotenen Untergrund-Literatur war der Schlüsselroman, der den Herrschenden sittliche Verfehlungen ankreidete, das Genre also, das in der berüchtigten Halsbandaffäre zur definitiven, heute unterschätzten, von Goethe aber mit wahrem Entsetzen aufgenommenen Diskreditierung der Monarchie führte.

Das liberale England, das seit 1695 eine weitgehende Pressefreiheit besaß, verzichtete für die indische Literatur auf jede Form der Genehmigung; dafür wurde die autochthone Literatur zunächst in enormen Katalogen erfasst, zunehmend ausführlicher bewertet, um danach in Einzelfällen gerichtlich belangt zu werden - die exegetischen Gerichtsschaukämpfe um die märchenhaft-blumige, oft verschlüsselte indische Bildwelt lassen einen veritablen Clash der Kulturen aufscheinen.

Die DDR erinnert mit ihrem verschachtelten System von Partei- und Staatsinstanzen an ein totalitär gewordenes, tendenziell paranoides Ancien Régime. Hier wurde Literatur in Jahresplänen komplett in staatliche Regie genommen, von der Konzeption bis zur Publikation. Stoffe, Erzählhaltungen, Figurenzeichnungen, aber auch Auflagenhöhen und Ausstattung wurden sorgfältig und bürokratisch verwaltet - es gab also nicht nur das Lektorat der Verlage, sondern danach ein mehrfach gestaffeltes Gutachterwesen mit Bearbeitungsmaßgaben und Verbesserungslisten, also ein staatsparteiliches Metalektorat. Darntons wichtigster Beispielfall ist der jahrelange, am Ende die gesamte Staatsspitze beschäftigende Kampf um Volker Brauns "Hinze-Kunze-Roman", diese brillante, an Diderot geschulte Allegorie auf die Machtverhältnisse zwischen Partei und Gesellschaft. Ein großartiger, fast selbst literarischer Stoff, denn er wiederholt auf einer Metaebene den Gegenstand von Brauns Meisterwerk (was dort übrigens seine fiktionsironischen Spuren hinterließ).

Dabei gilt Darntons Bewunderung nicht nur dem genialen, hartnäckigen Autor, der mit seinem Regime kämpfte wie Jakob mit dem Engel ("Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn"), sondern auch Gutachtern, die selbstverständlich ihren Diderot im Kopf hatten, darüber hinaus aber auch kompetent aktuelle Exegesen des französischen Klassikers, etwa von Michel Butor, abrufen konnten. Doch verschweigt Darnton keineswegs die stalinistische Vorgeschichte und die gewaltsamen Begleitumstände der Zensur, die nie so heißen durfte, und auch nicht die ästhetische Bornierung, die bei allem einsetzte, was den Literaturfunktionären als verrätselt und "spätbürgerlich" galt.

Darntons Ansatz ist historistisch, er nennt ihn ethnologisch: Zensur ist keine Invariante des Verbots, sondern eine wandelbare, alle Seiten der literarischen Produktion erfassende "Praxis". Und hier beginnen auch ein paar Einwände: Zu wenig thematisiert Darnton den entscheidenden Kontext der Tagespresse. Warum mussten französische Schmuddelromane ebenso scharf bekämpft werden wie die Verschlüsselungen und Anspielungen in der Belletristik der DDR? Weil die schöne Literatur vielfach Funktionen einer grundsätzlich untersagten Klartextpresse zu übernehmen hatte. Die Verhandlungspraxis um Belletristik und Lyrik erschließt sich umfassend erst in einem Kontext, in dem Informationen generell rationiert und gefiltert sind.

Vor dem aktuellen Horizont von Entgrenzungen, geplanter oder spontaner Gefühlswellen und Hassstürme wirkt das wie eine Erinnerung an tankerhaft vormoderne Zeiten - Papier und Blei sind schwerfällige Medien im Vergleich zu den elektronischen Datenströmen. Doch auch hier gibt es kein Ende der Geschichte, die legalen und technischen Instrumente für neue Regelungen sind längst in Arbeit. Und längst gibt es ein neues Mittel, Argumente und Meinungen bedeutungslos zu machen: Man ertränkt sie in einem Meer von Beliebigkeit, wenn nicht gar von Lügen. So wird Zensur zur kleinen Münze für alle, sie geht über vom Staat auf die Gesellschaft.

© SZ vom 20.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: