Russischer Regisseur:Im Zweifel für den Staat

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Ein bisschen freier: der Regisseur Kirill Serebrennikow. (Foto: Artyom Geodakyan/imago images)

Ende des Kulturkampfs? Was das Ende des Hausarrests von Kirill Serebrennikow für die russische Kulturszene bedeuten könnte.

Von Silke Bigalke

Er darf wieder raus, das ist zunächst das wichtigste. Er darf seine kleine Moskauer Wohnung verlassen, Mails schreiben, im Internet surfen, Menschen treffen, das Theater besuchen. Kirill Serebrennikow kann wieder freier arbeiten als in den vergangenen anderthalb Jahren im Hausarrest. Es ist keine große Freiheit, denn Moskau darf er nur mit Erlaubnis verlassen. Es ist auch keine sichere Freiheit, denn das Theater vor Gericht geht ja weiter.

Der Prozess gegen den Regisseur und drei Mitangeklagte ist etwa halb vorbei, schätzen die Verteidiger. Und eigentlich hatte das Bezirksgericht, vor dem er verhandelt wird, den Hausarrest um weitere drei Monate verlängert. Erst die höhere Instanz hob ihn auf. Offenbar glaubt das Moskauer Stadtgericht nicht, dass Serebrennikow noch Beweise verschwinden lassen, Zeugen manipulieren oder aus dem Land fliehen könnte. Die Komische Oper in Berlin will Serebrennikow sogar für die nächste Spielzeit nach Berlin einladen. Er soll Igor Strawinskys Oper "The Rake's Progress" inszenieren, der Intendant hat am Montag bereits mit ihm gesprochen. In Moskau aber rätselt man, was die neue Freiheit zu bedeuten hat. Und wagt nicht, daraus auch auf das Urteil zu schließen.

Denn der gesamte Prozess um das Theater-Projekt "Platforma" bleibt ein Rätsel. Angeblich haben die Angeklagten dieses Projekt nicht fürs Theater sondern nur dafür geschaffen, um Fördergelder zu unterschlagen. Auf organisierten Betrug durch eine kriminelle Vereinigung drohen zehn Jahre Haft. Dabei lässt sich ja leicht beweisen, dass sie Theaterstücke produziert haben, zehntausende Zuschauer, begeisterte Rezensionen, Auszeichnungen.

Erst letzte Woche hat die Anwältin von Sofia Apfelbaum, die für das Kulturministerium arbeitete und mit auf der Anklagebank sitzt, dem TV-Sender Doschd ein Interview gegeben. Sie erzählt darin, wie sie mit Videoaufnahmen beweisen musste, dass der Sommernachtstraum von William Shakespeare tatsächlich aufgeführt wurde. Vorarbeit, die die Ermittler nicht geleistet haben, auch deswegen zieht sich der Prozess derart in die Länge. Freispruch? Um davon zu träumen, sagte Anwältin Irina Powerinowa vergangene Woche, "muss man ein absolut verrückter Mensch sein".

Demnächst wird eine zweite Expertengruppe die Finanzen des Theaterprojekts für das Gericht prüfen. Sie träume derzeit nur von einem, sagt die Anwältin: Dass die Experten feststellen, dass die Theaterleute mehr Geld ausgegeben haben, als der Staat ihnen zur Verfügung gestellt hat.

Ein Problem ist nämlich, dass bei der Buchhaltung vieles falsch gelaufen ist. Die Theater-Plattform hat Aufträge an Scheinfirmen vergeben, um so die Fördergelder in Bargeld umzuwandeln. Damit zahlten Serebrennikow und sein Team Dienstleistungen und Requisiten. Ein Schleichweg, den viele Theater nutzen, weil sie sonst in Bürokratie versinken würden. Viele Kultureinrichtungen in Russland könnten mit ähnlichen Vorwürfen vor Gericht gebracht werden. Deswegen verunsichert der Prozess besonders. Nun rätseln alle, welche unsichtbare Grenze Serebrennikow überschritten haben könnte.

Das Ende des Hausarrests ist daher nicht nur eine Erleichterung für Serebrennikow. Viele möchten es als positives Signal sehen, doch wenn es überhaupt Signale in diesem Prozess gab, waren sie oft widersprüchlich. Serebrennikow konnte ja auch im Hausarrest weiterarbeiten. In dieser Zeit stellte er seinen Film "Leto" fertig, der den russischen Filmpreis Nika erhielt. Er inszenierte Opern im Ausland. Und sein Stück über den schwulen Balletttänzer Rudolf Nurejew feierte am Bolschoi-Theater große Erfolge. Russlands Mächtige applaudierten ihm, während er nicht mal seine sterbende Mutter besuchen durfte.

Unmöglich zu sagen, ob Serebrennikows neue Freiheit als Nachgeben im Kulturkampf zu deuten ist. Doch immer wenn die russischen Behörden Konzerte verhindern, Künstler unter Druck setzen, Filme verteufeln, bekommen diese besonders viel Aufmerksamkeit. Der Staat verliere den Kulturkampf, schrieb etwa die Zeitung Wedomosti nach Serebrennikows Freilassung. Die Mächtigen hätten gelernt, wie man etwas verbietet, aber nicht, wie man dann Alternativen schaffe.

Andere erklären das Ende des Hausarrests damit, dass sich auch innerhalb der Regierung nicht jeder wohlfühle mit dem Prozess gegen den Regisseur. Die Sache werde "als Übertreibung empfunden", sagte etwa die Politologin Tatjana Stanowaja der Zeitung RBK. Doch Fehler einzusehen, das sei dem System nicht gegeben. Deswegen erwarte sie einen Schuldspruch, aber einen milden.

© SZ vom 10.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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