Rundreise zum Hölderlin-Geburtstag :So dacht' er

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Neue Dauerstellung mit Staunen und Verunsicherung im Tübinger Turm, Baustelle im Geburtshaus in Lauffen und Betreten verboten in Nürtingen: Eine Rundreise zum 250. Geburtstag des Dichters Johann Christian Friedrich Hölderlin.

Von Alex Rühle

Als der Komponist Luigi Nono 1986 gefragt wurde, wer oder was er hätte sein mögen, antwortete er: "Der Tübinger Turm. Um Hölderlin zuzuhören." Nono wäre dann zwar 1875 bis auf die Grundmauern abgebrannt, ab sofort aber könnte er Friedrich Hölderlin so gut hören wie nie zuvor: Nach zweijährigem Umbau wird am Wochenende die neue Dauerausstellung im Tübinger Turm eröffnet, punktgenau, schließlich wird am 20. März der 250. Geburtstag des Dichters gefeiert.

Dem Kurator Thomas Schmid, Leiter der am Deutschen Literaturarchiv angesiedelten Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden- Württemberg, ging es bei der Neukonzeption genau darum: Hölderlins Werk im Sinne des Wortes zur Sprache zu bringen, seine Gedichte hör- und erfahrbar zu machen. Ganz oben, im zweiten Stock steht ein Tisch aus dem 18. Jahrhundert, das einzig authentische Möbelstück aus Hölderlins Zeit, feingedrechselte Beine, kleine Schublade. Das ist der Tisch, "auf den er mit der Hand geschlagen, wenn er Streit gehabt - mit seinen Gedanken". So schrieb es Lotte Zimmer, die wir gleich noch näher kennenlernen.

Der Dichter im Turm, gezeichnet von Rudolf Lohbauer. (Foto: DLA Marbach)

Bevor man den Rundgang fortsetzt, kann man natürlich fragen, wie Gedenken bei einem Dichter sinnvoll funktionieren kann, der so oft als sperrig und hermetisch bezeichnet wird. Man kann die Frage nach dem sinnvollen Gedenken aber auch unabhängig von Hölderlin stellen, gerade in einem Jahr, in dem Beethoven, Hegel, Hölderlin 250 werden und Paul Celan 100. Geburts- und 50. Todestag hat. In seinem Essay "Resonanz und Staunen" skizzierte der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt 1990 zwei unterschiedliche Formen der Annäherung an Kunstwerke. Geht es, grob verkürzt, darum, Kunst pädagogisch aufzuschließen, indem man sie historisch-kulturell kontextualisiert und interpretiert? Oder setzt man einfach das Werk selbst in den Mittelpunkt, in der Hoffnung, dadurch jähes Staunen, Ergriffenheit, Rührung zu erzielen? Greenblatt schreibt, die gelungenste Ausstellung sei diejenige, "die versucht, zunächst Staunen zu erzeugen, ein Staunen, das dann zu dem Wunsch nach Resonanz" vulgo Erklärung führt. In diesem Sinne muss man die Ausstellung im Tübinger Turm als rundum gelungen beschreiben.

Der erste Raum erzeugt Staunen und anschließend Verunsicherung. Dazu muss man wissen, dass Hölderlin in diesem Turm 36 Jahre lang als Pflegefall lebte. Nach seinem Zusammenbruch 1806 war er zunächst ins Tübinger "Clinicum" des Psychiatrieprofessors Johann von Authenriet zwangseingewiesen worden. Als er nach acht Monaten als "unheilbar" und mit der Aussicht auf nur wenige weitere Lebensjahre entlassen wurde, nahm ihn der Schreinermeister Zimmer bei sich auf und kümmerte sich mit seiner Familie und vor allem besagter Lotte fortan um den geistig umnachteten - Moment.

Im Turm am Neckar verbrachte der Dichter die letzten 36 Jahre seines Lebens. (Foto: dpa)

Genau. Erster Raum. Da wird die Geschichte erzählt, wie Hölderlin Zimmer eines Tages bat, ihm einen griechischen Miniaturtempel zu schreinern. Zimmer sagte, das ginge nicht, er arbeite "ums Brot" und könne, anders als sein Untermieter, nicht "in philosofischer ruhe leben wie er". Worauf Hölderlin sich ein Brett griff und darauf krakelte: "Die Linien des Lebens sind verschieden, / Wie Wege sind, und wie der Berge Gränzen. / Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen / Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden." Man muss gewiss nicht der Verschwörungstheorie anhängen, Hölderlin habe sich die letzten 36 Jahre seines Leben verstellt. Aber kann ein Mensch in völliger Umnachtung solche Zeilen dichten?

So wie das Gedicht eine uneindeutig schwebende Antwort auf die Frage nach Hölderlins Geisteszustand gibt, so verwebt die Ausstellung auch in den anderen Räumen Leben und Mythos gekonnt mit dem Werk, und das heißt immer auch mit dessen handwerklicher "Gemachtheit", also dem Versmaß und Rhythmus, das vorgetragen und sogar körperlich umgesetzt wird in Klopfen, Gehen, Skandieren. Schließlich lief Hölderlin selbst beim Deklamieren seiner Werke auf und ab oder klopfte laut den Rhythmus mit.

Der Satz "Die Linien des Lebens sind verschieden" wird in der Dauerausstellung im Turm auf eine runde Holzwand projiziert. (Foto: dpa)

Während man begeistert weitere Bezüge zwischen Leben und Werk findet - Hölderlins radikal kosmopolitischer Ansatz mitten im deutschen Krähwinkelelend, seine priesterlich-sakralen Erlösungsfantasien, das schroff Fragmentarische der späten Hymnen - sei der Objektivität halber auch der Fotograf zitiert, der während der Eröffnung nörgelte: "Alles so steril hier. Ich brauch' Butterbrotpapier mit Blut dran. Die Nähe zum Menschen!" Diesem Mann sei geraten, in fünf Wochen nach Lauffen zu fahren, ins Geburtshaus, das am 20. März eröffnet werden soll. Wobei man sich das, ehrlich gesagt, kaum vorstellen kann.

Ist es eine subtile Rache der Lauffener Handwerker an Hölderlin, der im "Hyperion" geschimpft hatte, man sehe überall in Deutschland nur "Handwerker und keine Menschen"? Die Stromkabel hängen aus den Wänden, es gibt in vielen Räumen noch keine Fenster und Türen, die Stufen im historisch erhaltenen Treppenhaus, auf dem Hölderlin, wie Eva Ehrenfeld, die Leiterin des Hauses, spekuliert "auf seinem Hosenboden runtergerutscht sein könnte", sind mit Sperrholz abgedeckt. Ehrenfeld, die gleichzeitig Geschäftsführerin der Hölderlingesellschaft ist, sagt, der Bürgermeister Klaus-Peter Waldenberger habe in seinem Büro im Rathaus eine Countdown-Tafel hängen, noch 40 Tage, noch 39. "Das würd' ich nervlich nicht aushalten." Gleichzeitig ist sie inmitten ihrer Großbaustelle beeindruckend guter Dinge und sich ganz sicher: "Am 20. März wird das Haus seine ganze Pracht entfalten. "

Erst 1970 fand ein Lokalhistoriker heraus, dass Hölderlin seine ersten vier Jahre in diesem Haus verbracht hat. Dann dauerte es bis 2015, als die Stadt Lauffen das Haus, das zu dem Zeitpunkt 30 Jahre leergestanden hatte, kaufen konnte. Jetzt soll Hölderlin den Besuchern "als Mensch" (Ehrenfeld) nähergebracht werden, vor allem in Briefen, als Freund, Liebhaber, Sohn oder Bruder. Ehrenfeld betont, dass dieses Gebäude "von allen Hölderlin-Häusern noch die meiste Authentizität hat", soll heißen, es gibt ein Originalfenster, die Originaltreppe und in einem Raum Originalhölderlinparkett, außerdem den Originalzuschnitt der Räume, die in einstigem Originaltaubenblau erstrahlen. Der Lauffener Bürgermeister hat es jedenfalls geschafft, eine dieser braunen Kulturtafeln an der Autobahn zu platzieren, sehr zum Neidwesen der Tübinger und auch der Nürtinger, die man hier auch noch erwähnen sollte.

Nürtingen hat mitten im historischen Zentrum das Haus stehen, in dem Friedrich Hölderlin seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Das Haus, von dem aus er auf die Lateinschule ging, wo er den um fünf Jahre jüngeren genialischen Friedrich Schelling kennenlernte und vor den Mitschülern schützte. Das Haus, in das er auch in späteren Jahren, gerade in Krisenzeiten, kam, um sich zu erholen. Ein Haus, in dem Literaturgeschichte geschrieben wurde: Der "Hyperion" wurde hier überarbeitet, einige der großen Gedichte sind hier wohl entstanden. Tourismustechnisch könnte man als Stadt damit ziemlich wuchern. Hölderlin war bis zu seinem Tod Nürtinger Bürger. Kurzum, dieses Haus, dieser Ort sind an sich schon genau der Resonanzraum, von dem Greenblatt spricht.

Was aber beschließt man in Nürtingen? Hölderlins Wohnhaus? Abreißen! So geschehen im Stadtrat 2007, der an derselben Stelle ein Verwaltungsgebäude errichten wollte. In letzter Sekunde konnte ein Bürgerbündnis die Zerstörung abwehren.

Seither wird gerungen um das Haus. Die einen sagen, entkernen, die anderen sagen, man solle möglichst alle alte Bausubstanz erhalten. Nun kann man für beide Seiten gute Gründe finden. Wofür man irgendwie keinen guten Grund findet, das ist die Tatsache, dass das Haus 30 Tage vor Hölderlins 250. Geburtstag in der Innenstadt dasteht wie ein Geisterhaus, leer, hässlich, grau, Betreten verboten. Der ganze dunkle Kasten wirkt wie ein Denkmal für all die versagte Anerkennung, unter der Hölderlin zu Lebzeiten so gelitten hat.

Dafür ist am Donnerstagabend im Nürtinger Rathaussaal Festbeleuchtung. Die Fotografin Barbara Klemm hat sich auf Hölderlins Spuren und Wege begeben. Eine wunderschöne Ausstellung, Schwarz-Weiß-Bilder entlang seiner Texte, oft ganz konkret, etwa wenn sie hinterm Lauffener Geburtshaus die Zaber fotografiert und das Flüsschen haargenau so aussieht wie Monets japanische Brücke. Die Würmlinger Kapelle sieht winzig aus unter dem riesigen Himmel.

Am Ende der Ausstellung, die meisten Vernissagegäste haben das Rathaus bereits verlassen, steht da noch die Nürtinger Kulturamtsleiterin Susanne Ackermann und sagt, man werde Ende 2021 die Dauerausstellung im ehemaligen Schweizerhof eröffnen, im Fokus sollen Lernen und Lehren im Leben Hölderlins stehen, weil in den Räumen ja über zweihundert Jahre verschiedene Schulen und zuletzt die Volkshochschule untergebracht waren. Aber warum so spät? Jetzt ist doch Hölderlinjahr! Ach, sagt Ackermann abwinkend, in diesem Jahr gibt es deutschlandweit 600 Veranstaltungen. "Wir sorgen dann eben dafür, dass es nach dem Jubiläumsjahr auch weitergeht."

Verblüffend. Fast ist da so etwas wie Greenblatt'sches Staunen über diese Antwort. Andererseits - vielleicht hat Hölderlin ja genau das gemeint, als er seinen "Hyperion" mit den überraschend lapidaren Sätzen endete: "So dacht' ich. Nächstens mehr."

© SZ vom 15.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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