Ruhrtriennale:Ohne Scham und Geheimnis

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Womöglich will Holzinger den männlichen Blick zugleich triggern und frustrieren: Schau her, alles da und doch nichts zu sehen. (Foto: Nicole M. Wytyczak)

In Florentina Holzingers Uraufführung "A Divine Comedy" bei der Ruhrtriennale sind mal wieder alle Frauen nackt. Seufz.

Von Martin Krumbholz

Tanztheater? Da ist man doch ein bisschen irritiert. Klar, spätestens seit Pina Bausch hat sich der avancierte Bühnentanz in jeder Hinsicht, und durchaus spektakulär, entgrenzt. Doch mit Bauschs geschlechterkritischem Humor hat "A Divine Comedy" so wenig zu tun wie, auf der anderen Seite, mit Martin Schläpfer oder anderen Hochglanz-Ästheten der zeitgenössischen Tanzkunst.

Das liegt an Florentina Holzingers Einstellung zum weiblichen Körper (Männer spielen bei der 1986 geborenen Österreicherin nur in der Technik eine Rolle), den sie, splitternackt, in den Mittelpunkt ihrer "Shows" stellt - und so auch an diesem Abend bei der Ruhrtriennale, in der "Kraftzentrale" im Duisburger Landschaftspark Nord (das Wort Kraftzentrale passt gar nicht schlecht). Was Nacktheit und explizite Sexualität genau erzählen, jenseits von scheinbarer Unbefangenheit oder Freizügigkeit, darüber kann man lange rätseln. Mit Dante Alighieris Spaziergang durch Hölle, Purgatorium und Paradies hat Holzingers "Göttliche Komödien"-Version eher wenig zu tun, auch wenn dieser Abend sich als "amazing journey" ausgibt.

Frauen, die stürzen, baumeln, Holz hacken, Motorrad fahren und Sex haben: Es gibt nichts außer der "Show"

Zu sehen ist in den zwei Stunden alles Mögliche. Zwei über der Bühne schwebende, am Schluss herunterkrachende Pkws. Ein zehnfach wiederholter 30-Meter-Hürdenlauf, bei dem, wenig überraschend, jedes Mal die längste Läuferin gewinnt. Eine rasante Sportmotorradfahrerin. Eine Pianistin, die, in die Vertikale gezogen und um 90 Grad gedreht, in dieser Position spielt. Feuer und Flamme als Repräsentanten der Hölle; Skelette: dito. Kopfüber von der Decke baumelnde Frauen. Frauen, die von einer Treppe nach hinten abstürzen. Holz hackende Frauen. Ein ausgeweidetes Pelztier. Sex und andere körperintime Vorgänge, die prinzipiell per Livevideo vergrößert werden.

Eine von zwei älteren Frauen (sie war schon in Holzingers "Tanz" dabei und spielte dort eine zynische Ballettmeisterin) erzählt von ihrer John-Neumeier-Vergangenheit und berichtet, dass sie heute an Parkinson leide. Sie wird "Beatrice" genannt, nach Dantes Gefährtin, aber solche Referenzen an das Ausgangsmotiv der Performance erscheinen willkürlich und folgenlos. An Erzählungen ist Holzinger kaum interessiert, und da sich so viele Programmpunkte ihrer Shows wiederholen, muss man annehmen: Es geht eben um diese. Um die Bildsprache und die ihr innewohnende oder aufgezwungene "Radikalität".

Action Painting mit weiblichen Körpern: Szene aus "A Divine Comedy". (Foto: Nicole M. Wytyczak)

Seltsamerweise wirkt all die offensive Nacktheit keinen Augenblick lang erotisch. Und das ist wohl kein Zufall, sondern durchaus beabsichtigt. Womöglich will Holzinger den männlichen Blick - wenn er sie überhaupt interessiert, wie er eine Pina Bausch interessiert hat - zugleich triggern und frustrieren. Schau her, es ist alles da und doch nichts zu sehen, scheint sie dem (männlichen) Zuschauer zuzurufen. Es gibt keine Scham, aber es gibt auch kein Geheimnis. Es gibt nichts - außer der "Show".

Sollte sich angesichts der Verquickung von Sex und körperlicher Bloßstellung jemand an Pasolinis letzten Film "Saló oder Die 120 Tage von Sodom" erinnert fühlen, der 1975 wegen "Obszönität" von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wurde - dann muss man diesen wohlwollenden Betrachter daran erinnern, dass es dem Italiener damals um eine politische Agenda zu tun war, um eine krasse, deutliche oder überdeutliche Faschismuskritik (Saló war der letzte Aufenthalt Mussolinis). Davon kann bei Holzinger keine Rede sein, es gibt keinen politischen Anlass, außer vielleicht einem nicht ausformulierten und daher vage bleibendem "feministischen" Programm.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte die Bild-Zeitung aus diesem Ruhrtriennale-Abend einen Skandal gemacht. Heute fragt man sich achselzuckend nur noch, ob der TÜV Rheinland auch genau hingeschaut hat.

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