Als vor Kurzem in Frankfurt am Main das Deutsche Romantikmuseum eröffnet wurde, führte der Parcours auch an den Genfer See, in die Villa Diodati, wo die junge Mary Wollstonecraft Godwin gemeinsam mit ihrer Stiefschwester Claire Clairmont, ihrem künftigen Ehegatten Percy Bysshe Shelley, dem Dichter Lord Byron und seinem Leibarzt John Polidori den überaus kühlen, regnerischen Sommer des Jahres 1816 verbrachten. Es wurde gelesen und vorgelesen, der Leibarzt schrieb an seinem Schauerroman "The Vampyr", die künftige Mary Shelley am Manuskript von "Frankenstein or the Modern Prometheus". In Weimar machte im Frühsommer des Jahres 1816 Johann Wolfgang Goethe seine erste Bekanntschaft mit dem Werk Lord Byrons durch die Lektüre der Vers-Erzählungen "The Corsair" und "Lara".
Das neue Romantikmuseum mit seinem markanten Neubau ist dem Goethe-Haus am Hirschgraben angegliedert und präsentiert die auf deutsche Quellen und Objekte fokussierte Sammlung des Freien Deutschen Hochstiftes. Doch erfolgt der Abstecher zum Genfer See nicht von ungefähr. Er wird mit dem Ziel unternommen, zur Europäisierung der Selbstwahrnehmung der Deutschen beizutragen, die sich selbst immer wieder eine Sonderbegabung zum Romantischen attestiert und die Romantik in Kunst, Literatur und Musik als zuvörderst deutsche Errungenschaft beschrieben haben. "Franzosen und Russen gehört das Land. Das Meer gehört den Briten. Wir aber besitzen im Luftreich des Traums die Herrschaft unbestritten", schrieb Heinrich Heine 1844 in "Deutschland, ein Wintermärchen", der spöttische Unterton war nicht zu überhören.
Die "Weimarer Klassik" lässt sich als eigene Epoche der Romantik längst nicht mehr verlässlich gegenüberstellen
Längst umfasst der Begriff "European Romanticism" in den angelsächsischen Ländern die Epoche insgesamt, der Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist wie die Brüder Schlegel, E. T. A. Hoffmann, und die Grimms in Deutschland angehörten, Lord Byron, William Blake, William Wordsworth oder John Keats in England, Victor Hugo und Balzac in Frankreich, Alessandro Manzoni in Italien oder Puschkin in Russland. Wenn die Deutschen nun diese Perspektive übernehmen, ist das auf kulturellem Gebiet ein ähnlicher Vorgang, wie er 2014 auf historisch-politischem Terrain zu beobachten war, als der Erste Weltkrieg, der in der kollektiven Erinnerung der Deutschen lange von seinem Nachfolger überlagert war, in Buchtiteln und Podiumsdiskussionen mehr und mehr als "Der große Krieg" bezeichnet wurde, in Anlehnung an die lang etablierte angelsächsische Formel "The Great War" und ihre französische Entsprechung "La Grande Guerre".
Gleich zwei neue Überblicksdarstellungen treiben die Einbettung der deutschen in die europäische Romantik voran. "Romantik. Ein europäisches Ereignis" titelt lapidar Rüdiger Görner, Professor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literatur an der Queen Mary University in London, "Der gedichtete Himmel" mit deutlicher Hommage an die Welt der Zauberworte Stefan Matuschek, Professor für Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Jena. Beide adressieren ihre Bücher an das allgemeine Publikum, beide liefern zahlreiche Detailinterpretationen von Romanen, Gedichten, Bildern, beide lassen sich weder die Geburt von Frankensteins Monster am Genfer See beim Wettstreit um die beste Gruselgeschichte entgehen noch den Hintergrund des kalten Sommers 1816, den Ausbruch des Vulkans Tambora auf einer Insel östlich von Java und Bali, der zur Verdunkelung der nördlichen Hemisphäre und Schneefall sogar im Sommer führte.
Von Beginn an ist bei Stefan Matuschek die Romantik "der zweite Impuls der europäischen Moderne", der sich von der europäischen Aufklärung nicht lediglich absetzt, sondern aus ihr hervorgeht. Den zeitlichen Rahmen der Romantik als Epoche setzen die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege, die Restauration und Revolutionen von 1830 und 1848. Die Statik und Stabilität der Ständegesellschaft erodiert langfristig, metaphysische Hintergrundgewissheiten gehen verloren, die Kantische Philosophie wird von den Zeitgenossen als Revolution im Reich des Geistes bezeichnet, die Erforschung des "ganzen Menschen" mit allen seinen Sinnen, die in der Aufklärung begonnen hat, wird über alle Gewissheiten hinausgetrieben. Und nicht zuletzt potenzieren und intensivieren sich Lektüre und Autorschaft mit der Alphabetisierung und der Ausweitung des literarischen Marktes.
In diesem Szenario ist bei Matuschek wie generell in der neueren Germanistik kein Platz mehr für die "Weimarer Klassik" als eigenständiger Epoche, die sich der Romantik verlässlich gegenüberstellen ließe. Ja, Goethe hat einmal das Klassische als das Gesunde und das Romantische als das Kranke bezeichnet, er hat gegen die religiös inspirierte Kunst der Nazarener opponiert und gegen die Hypertrophie des Nationalen und der Nationalliteratur in und nach den napoleonischen Kriegen das Konzept der Weltliteratur gesetzt. Aber für die Frühromantiker in Jena um die Brüder Schlegel markiert sein "Wilhelm Meister" wie die Französische Revolution die Tendenz der Epoche und bis in den "Faust II" hinein steht er im Austausch mit Lord Byron und der europäischen Romantik insgesamt.
Das Expansive, Unabschließbare, die von Novalis ausgegebene Parole der Romantisierung der ganzen Welt, Friedrich Schlegels Konzept der "progressiven Universalpoesie" ist Matuscheks Ausgangspunkt, die enge Verbindung des Romantischen mit dem Roman, dem Allesfresser, der jede Regelpoetik zersetzt, alle Formen neu mischt. Der Titel seines Buches enthält die Grundthese: der gedichtete, von Literatur und Kunst ausgestaltete, selbstgemachte Himmel tritt an die Stelle des metaphysisch-religiösen.
Es ging um die Entfesselung der ästhetischen Energien auf Kosten der metaphysischen, religiösen und politischen Gewissheiten
In Eichendorffs "Mondnacht" hat er die Transzendenz nicht verloren, aber sie ist nur noch von der Poesie selbst beglaubigt. Ob er die "neue Mythologie" beim jungen Friedrich Schlegel oder Hölderlin erörtert, den ästhetisch getönten Katholizismus Chateaubriands, die Gedichtsammlungen der englischen Lake Poets, das Fantastische bei E. T. A. Hoffman, die romantische Enzyklopädistik und Experimentalphysik oder die halb entdeckte, halb erfundene nordisch-germanische Mythologie, stets bringt Matuschek seinen Lieblingsbegriff ins Spiel, die "Kippfigur".
Sie lässt das Wunderbare und den Alltag ineinander übergehen, lädt das scheinbar ätherische Faszinosum der blauen Blume mit sexuellen Energien auf, bewahrt den Kult der Volkspoesie und Volksmärchen vor dem Verdacht, notwendig und unausweichlich zum völkischen Nationalismus zu führen. Dass es ihn, etwa beim "Turnvater" Jahn in der Romantik gab, verschweigt Matuschek so wenig wie den Antisemitismus der 1811 in Berlin gegründeten christlich-deutschen Tischgesellschaft um Achim von Arnim.
Von Überblicksdarstellungen, die sich immer wieder Zeit für Detailerörterungen nehmen, sollte man Lückenlosigkeit nicht erwarten. So wird man die große Weltreise des Adelbert von Chamisso und dessen Botanik, den Salon Rahel Varnhagens oder die Märchen von Wilhelm Hauff bei Matuschek nicht finden. Sein Buch lebt von der europäischen Auffächerung der Kippfiguren aus hochfahrender Geste und Selbstdementi, Schauerromantik und Wissenschaft, in der romantischen Entfesselung der ästhetischen Energien auf Kosten der metaphysischen, religiösen und politischen Gewissheiten hofft es ein Gegengewicht gegen jeglichen "Fundamentalismus" zu finden.
Auf angenehme Weise komplementär durchstreift Rüdiger Görner die europäische Romantik. Sein Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass darin nicht nur die Nationalliteraturen einander durchdringen, sondern auch die Künste. Er nimmt von der Literatur aus ihr Spektrum insgesamt in den Blick, neben der Malerei zumal die Musik, die vielen Zeitgenossen als die romantische Kunst schlechthin galt. Nicht nur, weil E. T. A. Hoffmann in Europa viel übersetzt wurde und dazu neigte, sein Ich "durch ein Vervielfältigungsglas" zu denken, wird er zu einer Schlüsselfigur, sondern vor allem als Personalunion von Autor und Komponist, als enthusiastischer Interpret Beethovens und Erfinder des Musikus Kreisler.
Schon das Vorwort, das aus fünf "Préludes" in (nicht nur) romantischen Tonarten besteht, macht klar, dass hier ein Literaturkenner schreibt, der zugleich Musikliebhaber ist. Den berühmten Vers "Schläft ein Lied in allen Dingen" aus Eichendorffs Vierzeiler "Wünschelrute" umgibt Görner mit einem vielfältigen Echoraum. Er untersucht Äolsharfe und Maultrommel als Instrumente der romantischen Lyrik, zeigt die Verbindungen zwischen den musikalischen Nocturnes und den Nachtstücken in Poesie und Prosa von Novalis bis zu August Klingemanns "Nachtwachen" des angeblichen Bonaventura, widmet ein eigenes Kapitel der oft übersehenen Ballettomania, dem romantischen Ballett als europäischem Erfolgsgenre. Die Figur der Tänzerin verfolgt er bis zu Gautier und Baudelaire.
In der Malerei entdeckt er als eigentümliches Gegenüber der Ruinenbilder gotischer Abteien von William Turner oder Caspar David Friedrich Joseph Michael Grandys Gemälde "The Bank of England as Ruin", in dem der Dämon der Finanzkrisen verborgen scheint. Auf den Spuren von Josef Danhausers Bild "Liszt am Flügel", auf dem George Sand und ihre Schriftstellerkollegen Alexandre Dumas und Victor Hugo neben dem Komponisten Rossini und dem Virtuosen Paganini dem Klavierspiel lauschen, begibt er sich in die Salons der Epoche. Die Nachzeichnung der romantischen Theorien von Liebe und Sinnlichkeit und der Experimente mit der Geschlechterspannung durchsetzt er mit Porträts der Paare Friedrich Schlegel und Dorothea, Benjamin Constant und Madame de Staël, George Sand und Frédéric Chopin.
Die philosophischen Aufschwünge des Ich nach Kant und der "Wissenschaftslehre" Fichtes übersieht er darüber nicht, ebenso wenig die politische Romantik - und findet schließlich in Mary Shelleys "Frankenstein", diesem Roman mit einer Fülle europäischer Schauplätze von den alpinen Gletscherzonen bis zum Polarkreis, nicht nur eine Antwort auf die zeitgenössischen Fortschritte der Wissenschaft, sondern zugleich eine kritische Reflexion zentraler Motive der Romantik selbst. Die Hochspannung der Gefühle, die entfesselte Einbildungskraft, die Versprachlichung der Träume, die Spaltungen und Multiplikationen des Ich erweisen sich als verbunden mit der Energie, die Novalis als "Witz" bezeichnet: "geistige Elektricität".
Mit anderen Worten: Wenn sie ihr Publikum finden, können die Bücher von Matuschek und Görner einiges beitragen zur Europäisierung des Blicks der Deutschen auf die Romantik.