Roman und Wissen:Das große Buch vom Scheitern

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Zum ersten Mal erscheint Gustave Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" zusammen mit allen Vor- und Nebenarbeiten: Und ein scheinbar bekanntes Buch erscheint plötzlich in völlig neuem Licht.

Von Thomas Steinfeld

Ein Rumor begleitet "Bouvard und Pécuchet", den letzten Roman Gustave Flauberts: Eine grundstürzende Satire auf die bürgerliche Gesellschaft sei hier versucht worden. Urkomisch seien die beiden Helden, wie sie die Wissenschaft ihrer Zeit in das praktische Leben zu übertragen trachten. Doch habe sich der Schriftsteller übernommen. Das Werk habe gar nicht fertiggestellt werden können, aus logischen Gründen: Denn aus einer langen Kette von Torheiten entstünden ja immer wieder nur neue Torheiten. Deshalb ende nicht nur der Roman in lauter unausgeführten Ideen, sondern auch die zugehörigen Schriften, also vor allem die "Universalenzyklopädie der Dummheit". Die neue, vierbändige Ausgabe dieses Werks ist geeignet, das Gerücht von Satire und Fragment zu widerlegen: Je tiefer man sich in diesen Berg aus Schriften gräbt, desto deutlicher wird, dass "Bouvard und Pécuchet" ein Buch ist, das sich mit "Madame Bovary" und der "Lehrjahre des Herzens", den anderen beiden großen Romanen Gustave Flauberts, zumindest messen kann.

Will Flaubert die Irrtümer seiner Figuren entlarven? Will er sich über sie erheben?

An einem Sonntag im Sommer, in der Mittagshitze, begegnen sich zwei Männer mittleren Alters auf einer Pariser Parkbank. Es dauert nicht lange, bis sie im jeweils anderen die verwandte Seele entdecken. Zudem teilen sie den Beruf: Beide arbeiten als Kopisten in einem Büro. Dann erbt Bouvard, und Pécuchet erhält eine Pension, sodass sich die beiden in der Normandie niederlassen können - um zuerst die Wissenschaft vom Ackerbau als Schwindel zu entlarven, dann die vom Obstbau, später die Chemie, dann die Anatomie, und so geht das fort, bis sie auch an Philosophie, Pädagogik und Moral verzweifeln und sich schließlich, im vollendeten Glück ihrer Niederlage, einen Schreibtisch mit doppeltem Pult anfertigen lassen, um zum Kopieren zurückkehren. Gewiss, man kann sagen, dass Bouvard und Pécuchet immer wieder denselben Fehler begehen, indem sie sich unter Wissenschaft einen Katalog von Regeln vorstellen, die zur praktischen Verwendung bestimmt sind - indem sie also von Argumenten nichts wissen und, was immer ihnen gedruckt begegnet, als Handreichung verstehen wollen.

Weitaus schwieriger aber ist es zu bestimmen, wie Gustave Flaubert sich zu diesem Irrtum verhält: Will er ihn entlarven? Kaum, denn dafür hätte er sich nicht so gründlich mit so vielen Wissenschaften beschäftigen müssen. Will er sich über die Menschen erheben, sich gar mit dem Selbstgenuss seiner Überlegenheit über ihre vermeintliche Dummheit trösten? Nein, denn er lässt er keinen Zweifel daran, dass die beiden ernsthaft nach Wahrheit suchen, auch wenn ihnen die dafür zur Verfügung stehenden Mittel unzureichend sind. Der im vergangenen Jahr gestorbene Münchner Übersetzer Hans-Horst Henschen hatte für dieses komplizierte Verhältnis einen angemessenen Ton gefunden, als er das Werk vor einigen Jahren für die "Andere Bibliothek" (2003) neu ins Deutsche übertrug. Sie bildet das Zentrum der neuen Ausgabe.

Genauso wenig, wie man in "Madame Bovary" mitgeteilt bekommt, wie Gustave Flaubert über seine Heldin denkt, genauso wenig, wie aus den "Lehrjahren des Herzens" zu erfahren ist, was eigentlich - im moralischen Sinn - von Frédéric Moreau zu halten ist, genauso wenig urteilt der Autor über Bouvard und Pécuchet, wenn der Destillierkolben explodiert, in dem sie einen neuen Likör hatten schaffen wollen. Einem aufmerksamen Leser kann darüber hinaus spätestens nach einem Drittel der Lektüre nicht mehr entgehen, dass er sich zwar mit einem überaus realistisch wirkenden Roman beschäftigt, in der Mitte allen Realismus aber das Fantastische haust. Wie viele Leben hätten die beiden Helden eigentlich gebraucht, um all ihre Experimente durchzuführen, während zugleich erkennbar ist, dass sie sich in einer historisch identifizierbaren Zeit bewegen? Und wie oft hätte das kleine Vermögen der beiden wiederkehren müssen, so oft, wie es verbrannt, verpfändet, vergeudet, verschenkt und verloren wurde?

Die Antwort auf diese Fragen liegt in einem Werk verborgen, dessen Anfänge weit hinter den Beginn der Arbeiten an "Bouvard und Pécuchet" im Jahr 1872 zurückgehen: auf die "Universalenzyklopädie der Gemeinplätze", von der Gustave Flaubert gehofft hatte, sie zusammen mit dem Roman veröffentlichen zu können. Ein solches Wörterbuch, versprach er im Dezember 1852 seiner Freundin Louise Colet, werde ungeheuer einschlagen: "Das gesamte Buch hindurch dürfte es kein Wort geben, das auf meinem Mist gewachsen wäre, und hätte man es einmal gelesen, dürfte man sich nicht mehr trauen, den Mund aufzumachen aus Angst, von selbst eine der Phrasen zu sagen, die darin stehen." Am Ende und Ziel dieses Werkes herrschte Stille, und es wäre dieselbe Stille, die sich über das Haus von Bouvard und Pécuchet senkte, wenn die beiden endlich wieder an ihre Kopiertische zurückgekehrt wären. Es ist das Verdienst der neuen Ausgabe, dass sie den Roman und die "Enzyklopädie" nebeneinanderstellt, einschließlich der handschriftlich überlieferten Notizen, Dossiers, Exzerpte - und also zu rekonstruieren sucht, was sich Gustave Flaubert unter diesem Werk womöglich vorgestellt hatte.

Leicht einigt man sich über die bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffenen Gedanken

Dieses Nebeneinander von Roman und Nachschlagewerk ist selbstverständlich eine Konjektur, über die man streiten kann. Sie besitzt indessen den Vorteil, dass sich daraus ein intellektuelles Konzept ergibt, wie man es Gustave Flaubert zutraute. Denn in jener Stille steckt nicht nur eine Theorie der Gesellschaft, sondern auch eine der öffentlichen Repräsentation, und an dieser Theorie hat der Leser teil, lange schon bevor er bemerken kann, was dieses Buch mit ihm macht. Denn selbstverständlich weiß auch er nicht, was er sagen oder denken kann, ohne dass es in der "Enzyklopädie der Gemeinplätze" verzeichnet wäre. Dann hält er sich vielleicht eine Weile an den Ereignissen fest, die ihm zuweilen wie Slapstick erscheinen, an der Geschichte vom explodierenden Destillierkolben zum Beispiel. Dahinter aber tut sich bald jene gnadenlose Stille auf.

In dieser Stille weiß man, dass nichts Gesellschaftliches geschieht, ohne dass die Dummheit sich darin niederließe und in sich selbst zu kreisen begänne - aus dem einfachen Grund, aus dem der französische Ausdruck "idées reçues" im Titel dieses Werkes mit dem Wort "Gemeinplätze" richtig übersetzt ist: Denn es sind die gebrauchten, die bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffenen Gedanken, über die man sich am leichtesten verständigt, und kaum, dass sie ergriffen sind, beginnen sie neue Dummheiten hervorzubringen. Je weiter man in diesen Werkkosmos vordringt, desto mehr ist es deshalb, als bekomme man etwa zu Samuel Becketts Dramen die philosophische und literarische Begründung geliefert - wiederum in Gestalt eines literarischen Werks. So betrachtet, im Ensemble der Vor- und Nebenarbeiten, stellt sich Gustave Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" als eine ungeheure Errungenschaft dar: moderner, unerbittlicher, aber auch liebe- und verständnisvoller, als es der Roman der ästhetischen Moderne dann wurde.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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