Roman "Der Radfahrer von Tschernobyl":In die Pedale treten gegen das Vergessen

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Die Zone lebt: Schriftsteller Javier Sebastián lässt einen Kernphysiker durch Tschernobyl radeln. Sein Roman über die Geisterstadt und ihre heimlichen Bewohner beschreibt einen Ort verbrecherischer Verschleierungstaktiken aber auch die Faszination, die von menschlicher Vergänglichkeit ausgeht.

Jutta Person

Geisterstädte sind Wunschmaschinen. Mit der Macht des ehemals blühenden Alltags saugen sie die Überlebenden und Neugierigen, die Forscher und Plünderer in sich zurück. Die einst bewohnte, dann menschenleere Zone beunruhigt und fasziniert gleichermaßen; vielleicht, weil die Seelen der alten Bewohner ja doch noch da sind.

Verlassene Schule in Prypjat: Die Katastrophen, die eine Stadt in eine menschenleere Zone verwandeln, sind fast immer menschengemacht. (Foto: dpa)

Wenn rostige Riesenräder quietschen, wenn sich Bäume durchs Trottoir sprengen und wilde Hunde durch verlassene Straßen jagen, wenn aus Wohnungen Höhlen werden und die in letzter Hast umgeworfenen Möbel verrotten - dann sagen Dinge, Pflanzen und Tiere: So schnell kann es gehen mit eurer Hybris. Denn die Katastrophen, die eine Stadt in eine menschenleere Zone verwandeln, sind fast immer menschengemacht. Das trifft ganz besonders für Prypjat zu, die Geisterstadt vier Kilometer neben dem Atomkraftwerk Tschernobyl.

Der spanische Schriftsteller Javier Sebastián hat Prypjat ins Zentrum eines Romans gestellt, der Fakten und Fiktion in wundersamer Weise vereint. Denn Prypjat ist natürlich nicht nur eine mythische Memento-mori-Zone - sie ist vor allem der sehr konkrete Ort verbrecherischer Verschleierungstaktiken: angefangen mit der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 bis zu den Lügen, mit denen das Ausmaß heruntergespielt und damit unzählige Strahlentote sowie, im größeren Umkreis, Folgeschäden bei Millionen von Menschen in Kauf genommen wurden. Wissenschaftler, die den Verlautbarungen der Behörden widersprachen, wurden zum Schweigen gebracht.

Wie im Fall des weißrussischen Kernphysikers Wassili Nesterenko, der sein Leben in den Dienst der Opfer stellte, das nichtstaatliche Belrad-Institut für Strahlensicherheit gründete und von weißrussischen Behörden tödlich bedroht wurde.

Nesterenko, der 2005 den Bremer Friedenspreis erhielt, ist der titelgebende "Radfahrer von Tschernobyl" in Sebastiáns Roman. Der 1962 geborene Schriftsteller, der an der Universität Saragossa lehrt, hat seine akribische Recherche in eine mitreißende, literarisch dichte Beschreibung der Zone und ihrer heimlichen Bewohner verwandelt. Dazu kommt ein weiterer gelungener Kunstgriff: Sebastián hat einen spanisch-französischen Erzählstrang eingeflochten, der einen namenlosen Ich-Erzähler mit Nesterenko zusammenbringt. Osteuropäische Apokalypse trifft behäbiges Kerneuropa.

Trotzig gegen Depression, Krankheit, Kälte und Plünderer

Paris, in einem Schnellrestaurant Ende der Nullerjahre: Der namenlose spanische Ich-Erzähler bemerkt einen verwahrlosten alten Mann, der offensichtlich ausgesetzt wurde. Er nimmt ihn mit, was sein Arbeitsleben extrem verkompliziert: Der Spanier ist Delegierter einer europäischen Konferenz für Maße und Gewichte, zuständig fürs Kilo. Alle nennen ihn nur "Dos Kilos", und dieser Mann des Präzisionsgewerbes wird nun in den größten anzunehmenden Unfall menschlicher Maßlosigkeit hineinkatapultiert. Wasja, der seine Geschichte erst allmählich preisgibt, trägt eine rätselhafte Tätowierung: "Samosjol", so nennen sich die Menschen, die heimlich nach Prypjat zurückgekehrt sind.

Sie leben dort mehr schlecht als recht, verkaufen mutierte Insekten an Touristen, pflanzen Gemüse an, essen Regenwürmer, leiden und sterben. Und doch bilden sie ein Desperado-Grüppchen, das trotzig gegen Depression, Krankheit, Kälte und Plünderer kämpft.

Da ist Laurenti Bachtjarow, der im bröckelnden Kino-Theater Prometheus singt. Er will das Grab seiner Frau Ekaterina nicht allein lassen, die am Tag des Unfalls im Wald war und kurz darauf starb. Oder die alte Nastja Elzowa, die Hühner hält, deren Kämme, so sagt man, schwarz werden von der Strahlung.

Auch Wasja landet auf der Flucht vor den Schergen des Regimes in Prypjat. Er findet ein Fahrrad und das Radeln über die leeren Prospekte weckt seine Tatkraft: Er will dem Häuflein versprengter Vogelscheuchen helfen. Sebastián schafft es, diese schrulligen Gestalten nach und nach zusammenkommen zu lassen, ohne je in kitschiges Gemeinschaftspathos zu verfallen.

Gleichzeitig ist diese Zonengeschichte ein Buch der Anklage: "Auf einmal war nur noch von zweihundert verstrahlten Ortschaften die Rede statt von dreitausend, die es 1992 gewesen waren, und die zwei Millionen Menschen, die wegen Strahlenkrankheit behandelt werden mussten, hatte man auf fünfzigtausend heruntergerechnet", berichtet Nesterenko.

Kleingeredet und vergessen

Die Folgen der Kernenergie veranschlagt eine im Roman zitierte Studie mit "weltweit 376 Millionen Krebsfällen, 235 Millionen genetischen Defekten und 587 Millionen teratogenen Effekten". Unfälle werden mit Macht und Gewalt kleingeredet, und sie werden vergessen, sobald die ersten Schlagzeilen verpufft sind; daran erinnert Sebastián.

Tatsächlich ist es schon erstaunlich, wie wenig man ein Jahr nach Fukushima über die dortige Zone liest. "Der Radfahrer von Tschernobyl" radelt gegen das Vergessen, auch wenn das zu pathetisch klingt für ein Buch, das feinfühlig und mit hintergründigem Witz von den Geistern aus Prypjat erzählt. Geister, die sich in die Erinnerung der Lebenden zurückwünschen.

Javier Sebastián: Der Radfahrer von Tschernobyl. Aus dem Spanischen von Anja Lutter. Wagenbach Verlag, Berlin 2012. 220 Seiten, 19,90 Euro.

© SZ vom 18.07.2012/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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