Roman:Der Mensch erscheint im Hologramm

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Thomas von Steinaecker erzählt von einer Welt ohne Zukunft - doch die Vorbilder schimmern allzu deutlich durch.

Von Alex Rühle

Das Beste an diesem Buch ist seine Konstruktion. Eine Dystopie im Futur zwei, eine Science-Fiction, die von unserer näheren Zukunft bereits in der Vergangenheit spricht: Es wird erst mal so weitergegangen sein wie bisher, nur eben technisch avancierter: 3-D-Werbescreens an den Autobahnen, Klonfabriken am Chiemsee, Schutz-"Shields" über der Erde, die die aggressive Sonnenstrahlung abhalten sollen.

"Die Verteidigung des Paradieses", der neue Roman von Thomas von Steinaecker, setzt dann einige Jahre nach einer zunächst nicht genau erklärten Katastrophe ein, ganz Deutschland scheint zerstört zu sein. Ganz Deutschland? Nein! Ein kleiner Trupp, gerade mal sechs Leute, (über-)lebt auf einer Alm bei Berchtesgaden. Sie sind hier oben gefangen und geborgen zugleich und leben damit literaturgeschichtlich Wand an "Wand" mit Marlen Haushofers Erzählerin, ein Zwangsidyll inmitten der totalen Wüstenei. Heinz erzählt davon, ein Jugendlicher, der an seinem 15. Geburtstag vom väterlichen Chef der Gruppe den Auftrag erhält mitzuschreiben, Chronist zu sein für künftige Generationen, so es denn welche geben wird.

Ein jugendlicher Auserwählter also, der außerhalb seiner Gruppe noch nie einen anderen Menschen zu Gesicht bekommen hat. Wobei die Formulierung vom anderen Menschen ja impliziert, dass er selbst ein Mensch ist. Heinz aber, man merkt es früh, hat einen prekären ontologischen Status. Es gibt da ein seltsames Tattoo unter der Achsel und sein Geist wird zuweilen von Anfangssätzen aus den großen Werken der Weltliteratur geflutet, ohne dass er je eines dieser Bücher gelesen hätte. . .

Heinz, dessen einziger Freund ein elektrischer Wüstenfuchs ist, schreibt fortan Hefte voll, die das Buch strukturieren, Das Blaue Heft, Das Grüne Heft, was an Agota Kristofs Roman "Das große Heft" denken lässt, in dem zwei Brüder unter absolut menschenfeindlichen Bedingungen aufwachsen. Kristofs Pointe: Gerade indem sie das Buch als Protokoll einer totalen Entmenschlichung, einer Verhärtung um des Überlebens willen anlegt, stellt sie an den Leser die immer drängendere Frage, was es noch bedeutet, ein Mensch zu sein.

Auch bei Thomas von Steinaecker steht diese Frage im Zentrum: Was macht den Menschen aus? Was zählt noch, wenn alles untergeht? Wie kann es sein, dass ein so reich begabtes Wesen wie der Mensch immer wieder böse Welten schafft? Nur dass diese ja ganz und gar existenziellen Fragen einen als Leser in diesem Roman nie wirklich anspringen.

Das hat verschiedene Gründe. Zum einen ist da der Erzähler, dem man seine Rolle einfach nicht abnimmt. Anfangs spricht er in einem merkwürdigen Mix aus elaboriertem Chronistendeutsch - "Ich entschied, es wäre am besten, in so einer ungewöhnlichen Situation dem Beispiel unseres weltbesten Leaders zu folgen" -, Jugendslang - Dinge sind strange und foxy - und Wahrigs wertvoller Wörtertruhe: Heinz liebt gediegenes Deutsch, er will "Altwörter" wie Salbader, Höflichkeit, Würde in seinen Heften rettend aufheben, wenn schon all das, was sie einst bezeichnet haben, in der neobarbarischen Wirklichkeit "da draußen" untergegangen ist.

Bald wird aus der Robinsonade ein apokalyptisch düsteres Road Movie, der kleine Trupp verlässt die Alm, in der Hoffnung darauf, jenseits der deutschen Grenze, in Frankreich, ein großes Lager und damit die Zivilisation zu erreichen. Da wird das geradezu übermächtige Reservoir an Hollywoodbildern und -genres angezapft, "Mad Max", "The Day After", Mutantenfilme, Kannibalenhorror. Die Reise ist ein Höllentrip, seit das Schutz-Shield zerbrach, ist auch unter den letzten Überlebenden jede zivilisatorische Hemmung weggefallen. Es verwundert nicht, dass Heinz jetzt eher ein atemloses Survival-Protokoll liefert, so wie sich die Gruppe aufs Allernötigste konzentrieren muss, so wirft er in seiner mitstenografieren Chronik jeden ästhetisch überambitionierten Ballast ab.

Es ist nur so, dass einen auch dieser Trip nicht wirklich packt. Die sechs Personen wachsen einem kaum ans Herz, da laufen eher Rollenklischees als echte Menschen durch die düsteren Kulissen, die wunderliche Alzheimeralte, der brutale und zugleich loyale Kämpfer, der Patriarch, die junge Mutter. . . Der gemeine, todbringende Verrat an einem Gruppenmitglied erschüttert einen beim Lesen so wenig wie später der freiwillige Opfertod eines anderen.

Es ist aber vor allem kein Zufall, dass in dieser Rezension trotz ihrer Kürze so viele Referenzen auftauchen: Marlen Haushofers "Die Wand", "Mad Max", "Das große Heft", Cormac McCarthys "Die Straße" sind jeweils so starke Werke, dass sie in Thomas von Steinaeckers Dystopie immer wieder von den Erinnerungsrändern her durchschimmern, als seien sie die stärkeren Kraftfelder.

Thomas von Steinaecker. Die Verteidigung des Paradieses. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 416 S., 24,99 Euro. E-Book 22,99 Euro.

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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