Rock und Revolution:Ein bitteres, bitteres Lied

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Sie lieferten den Soundtrack zum Protest gegen die Regierung, und ihr letztes Konzert endete in einer Feuertragödie: Wie die Musiker der Bukarester Band "Goodbye To Gravity" posthum zu Helden der Rumänen wurden.

Von Florian Hassel

Es sind nur noch ein paar Stunden bis zum Auftritt, als Alex Pascu bei seiner Plattenfirma vorbeischaut. Es ist Freitag, der 30. Oktober. Pascu und die anderen vier Musiker der Band Goodbye To Gravity wollen am Abend im Bukarester Club Colectiv ihr neues Album vorstellen. Bassist und Bandchef Pascu holt bei der Plattenfirma ein paar Hundert CDs ab, die die Band beim Konzert zu verkaufen hofft.

Musikmachen ist in Rumänien auch in der Hauptstadt Bukarest eine familiäre Angelegenheit. Selbst der Weltkonzern Universal residiert hier nicht in einem glänzenden Geschäftszentrum, sondern in einem kleinen Zwei-Etagen-Haus der vorvergangenen Jahrhundertwende, das den städtischen Vernichtungsfeldzug von Ex-Diktator Nicolae Ceauceşcu in einer Seitenstraße überstanden hat. Universal Music Romania versucht mit 20 Mitarbeitern, ein Repertoire aufzubauen, das sich vom im Radio gespielten Balkan-Pop, westlichen Hits und Oldies abhebt - und sich trotzdem halbwegs verkaufen lässt.

Der Club war an dem Abend vollgepackt und die Band hatte extra Feuerwerkseffekte bestellt

Seit eineinhalb Jahren ist Vlad Bușcă, Bassist der Bukarester Heavy-Metal-Gruppe L.O.S.T., dafür zuständig, eine Rocksparte aufzubauen, mit rumänischen Gruppen. Seit ein paar Jahren gibt es Goodbye To Gravity. Die Band hat Gründer Pascu, 34 Jahre alt, bühnengreifend, bartbewehrt, aus bewährten Heavy-Metal-Veteranen zusammengestellt - und aus Sänger Andrei Gălut. Der hat mal die rumänische Version der Casting-Show "DSDS" gewonnen, ist aber, stellt Pascu fest, eigentlich ein "echter Metalhead". Das erste Album kommt gut an, 2012 wird Goodbye To Gravity aus 2000 Nachwuchsbands ausgewählt, um beim Summer-Breeze-Festival in Dinkelsbühl zu spielen, ein Aushängeschild für Heavy-Metal-Musiker. 2014 sind sie erstmals beim Exit-Festival dabei, das jährlich bei Belgrad stattfindet und zu den angesehensten Festivals in Europa zählt.

Im Frühling 2015 hat Goodbye To Gravity das zweite Album fertig, eingespielt in Bukarest, abgemischt auf Santorin, gemastert in Helsinki - von Spezialisten des Genres. Pascu und seine Kollegen wollen sich abheben vom gängigen Plattmachersound. Melodik, eingängige Riffs und Chöre sind den Jungs wichtig, auch ungebrochene Dynamik. Weil's besser klingen soll, wird auf Tonband aufgenommen, nicht digital. Die Band wählt für das Album einen genreüblichen Harte-Jungs-Titel ("Mantras of War" - Kriegsgesänge) und für das Cover einen Retro-Science-Fiction-Look. Drei Videos produzieren sie für das Album. Viele Freunde helfen, sonst wäre die Sache nicht zu bezahlen. So kommt Bandchef Pascu mit dem fast fertigen Album zu Rockmanager Bușcă, der Goodbye To Gravity im Sommer unter Vertrag nimmt. Als Startauflage gibt Bușcă erst einmal 500 Exemplare in Auftrag.

Das Konzert der Band "Goodbye To Gravity" am 30. Oktober im Club Colectiv - kurz bevor das Feuerwerk den Brand in Gang setzte. (Foto: Reuters)

Leben können die wenigsten rumänischen Rockmusiker von ihrer Musik. Der Eintritt für Konzerte liegt in Bukarest bei umgerechnet zwei bis fünf Euro. "Wenn man Glück hat, kommen 200 Zuhörer", sagt Bușcă. Mittelgroße Konzerthallen gibt es kaum in Bukarest, viele Clubs sind in Kellerräumen untergeschlüpft. "Das Wort Underground-Musik nehmen wir in Bukarest wörtlich", sagt der Manager.

Goodbye To Gravity nehmen keinen Eintritt an diesem 30. Oktober im Colectiv, einem im Keller einer ehemaligen Sportschuhfabrik untergekommenen Club. So sind nicht 100, sondern "300 bis 350" Zuhörer im vollgepackten Club, erinnert sich Bușcă später. Die Staatsanwaltschaft schätzt die Zahl der Besucher später gar auf bis zu 500. Bukarester Medien zufolge fanden Ermittler später ein Dokument, demzufolge die Band dem Club eine Miete von 500 Euro hätte zahlen müssen, wenn nicht wenigstens 400 Zuhörer gekommen wären - die Mindestzahl, um die Kosten durch den Getränkeverkauf zu decken.

Bușcă setzt große Hoffnungen auf Goodbye To Gravity, wegen ihres kraftvollen Sounds, ihrer Professionalität und ihrer Musik. Die Band erinnert in ihren besten Songs an Rage Against The Machine, die begnadete US-Krachmachercombo, die mit ihrem Protestsong "Wake Up" die Titelmusik zum Kultfilm "Matrix" lieferte.

Goodbye To Gravity haben die Bühne dekoriert und eine Effektfirma für Feuerwerkseinlagen angeheuert. Der erste weiß strahlende Funkenregen, der selbst auf der Haut kalt bleibt, kommt gleich zu Konzertbeginn zum Einsatz, als die Band ihre neue Single spielt - "The Day We Die" (Der Tag, an dem wir sterben). Manager Bușcă steht rechts der Bühne und fotografiert. Auch den Moment, in dem der Alptraum beginnt.

Ein Funke fliegt von der Bühne vier Meter zur einer Stützsäule, die mit schallschluckendem Material umhüllt ist - und in Brand gerät. Binnen Sekunden springen die Flammen auf die ebenfalls mit dem schallschluckenden Material gepolsterte Decke über. Bușcă, der nahe am Ausgang steht, rettet sich nach draußen - und wartet auf die anderen. Das Colectiv aber ist längst ein Meer aus panischen, schreienden Menschen und giftigem Rauch. Dutzende Besucher schaffen es nicht mehr nach draußen. 28 Menschen sterben in dieser Nacht, und die Chronik des Todes wird fortgeschrieben. Bis heute sind es 62 Tote.

Andrei Gălut, der Sänger von Goodbye To Gravity. Er überlebte als einziges Bandmitglied die Tragödie. (Foto: oh)

Am Tag nach dem Feuer zogen in Bukarest mehrere Tausend Menschen trauernd vom Stadtzentrum zum Colectiv. Die Tragödie erschütterte die Rumänen, ihr Zorn wuchs, vor allem gegen die politisch Verantwortlichen, die sich mutmaßlich hatten bestechen lassen, um ein Auge zuzudrücken: Dem Colectiv fehlte der richtige Feuerschutz ebenso wie genügend Notausgänge. Überall klickten die Menschen auf Youtube Goodbye To Gravity's Single an - allein in den Tagen nach der Tragödie über eine Million Mal. Viele Rumänen stellten überrascht fest, dass "The Day We Die" kein mit Pseudo-Todessehnsucht spielender Genreschocker ist, sondern ein Protestsong: gegen die in Rumänien verbreitete Korruption, gegen das ebenso verbreitete politische Desinteresse und Passivität: "Die ganze Zeit waren wir weggeschlossen / Und es gab nichts zu sagen / Bis heute / Wir sind keine Nummern, wir sind frei / Wir sind so lebendig / Weil der Tag, an dem wir aufgeben / Der Tag ist, an dem wir sterben", singen Goodbye To Gravity in dem Song.

Der Song "The Day We Die" wurde zum Soundtrack der Proteste gegen die Regierung

Als die Rumänen schließlich nicht nur in Bukarest, sondern in 20 weiteren Städten des Landes erst gegen Korruption, dann für den Rücktritt der Regierung und nach deren Rücktritt für einen weitergehenden Umbau Rumäniens demonstrierten, skandierten viele den Refrain der Single. Auf dem Universitätsplatz von Bukarest, dem Zentrum der tagelangen Proteste, brannten neben einem Springbrunnen Hunderte Kerzen, lagen Zettel mit dem Refrain des Songs neben Fotos der Toten.

Auch die Fotos von Vlad Telea und Mihai Alexandru waren dabei. Die beiden Gitarristen von Goodbye To Gravity starben noch am Abend der Katastrophe. Die anderen drei Bandmitglieder überlebten zunächst schwer verbrannt. Das Herz von Schlagzeuger Bogdan Lavinius blieb acht Tage nach der Katastrophe stehen, an Bord eines Flugzeugs, das ihn zur besseren Behandlung nach Zürich flog. Bandchef Alex Pascu kämpfte noch vier Tage länger - am 11. November starb auch er auf dem Flughafen von Paris, als er in eine Spezialklinik gebracht werden sollte. Nur Sänger Andrei Gălut lebt noch und wird jetzt in Holland behandelt.

Manager Bușcă hat durch die Tragödie im Colectiv bis heute 14 Freunde verloren. Am 20. November, einen Monat nach dem Inferno, kamen Tausende Bukarester zum Gedenken an die Band und die anderen Opfer wieder zum geschlossenen Colectiv, legten Blumen nieder und zündeten neue Kerzen an. Die Videos von "The Day We Die" wurden bis heute 2,6 Millionen Mal geklickt. Universal Music Romania stellt alle Einnahmen den Opfern zur Verfügung. "Es ist bitter", sagt Bușcă, "dass die Musik dieser tollen Band erst durch die Tragödie bekannt geworden ist."

© SZ vom 16.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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