Road Novel:In der Wildnis

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Ein tödliches Virus hat die Menschheit befallen. Nur die Kinder überleben - auf Sizilien. Der italienische Schriftsteller Niccolò Ammaniti hat einen beeindruckenden Roman über eine Welt ohne Erwachsene geschrieben.

Von Thomas Steinfeld

Eine "road novel" erzählt keineswegs nur von der Straße, und die Protagonisten solcher Romane sind keineswegs nur unterwegs. Denn vorangetrieben werden sie von einer Sehnsucht nach seliger Sesshaftigkeit, und jedes halbwegs glückliche Innehalten auf der Reise erscheint als Vorglanz jenes Ankommens. Dass es aber diese Hoffnung überhaupt gibt, setzt ebenfalls die Gebundenheit an einen Ort voraus, als vorausgegangene Erfahrung, und zwar nicht nur, weil es anderenfalls die Vorstellung jenes Ziels nicht gäbe, sondern auch, weil jeder Hoffnung eine Idee von Planbarkeit innewohnt, und sei sie auch noch so vage. Und wie sollte diese Idee entstanden sein, wenn nicht aus einer Art Sesshaftigkeit heraus? Wirkliches Nomadentum kommt deshalb in einer "road novel" nicht vor. Ein solches Leben müsste planlos sein, von nicht begriffener Not getrieben und ohne Vorstellung von Zukunft. Und von der Erinnerung an die Vergangenheit ist dabei womöglich nicht mehr übrig, als es zum unmittelbaren Überleben bedarf.

Gewiss ist "Anna", der jüngste Roman des römischen Schriftstellers Niccolò Ammaniti, eine "road novel". Aber er ist es gleichsam auf der Schwelle zur Schilderung des Nomadentums. Das liegt daran, dass Niccolò Ammaniti seinen Helden die Zukunft nimmt, nicht vollständig, aber fast, so dass diese Zukunft wie einer dünner Spalt erscheint, den die Tür gerade noch offen lässt, bevor sie endgültig zufällt: Ein Virus hat in Ammanitis Geschichte die Menschheit befallen, und er sorgt dafür, dass alle Erwachsenen sterben, die Kinder aber am Leben bleiben, bis sie ihrerseits geschlechtsreif werden. Der Einfall ist von einiger Perfidie, nicht nur, weil absehbar ist, dass die Menschheit in ihren Kindern zugrunde gehen wird, sondern auch, weil er den Kindern die Unschuld nimmt: Durchschlagen müssen sie sich, unter allen erdenklichen Bedingungen, weshalb manche Teile der Geschichte an William Goldings "Herr der Fliegen" (1954) erinnern.

Doch ist Niccolò Ammanitis Perspektive weiter: Die Insel, auf der seine Kinder leben, ist kein menschenleeres Eiland in der Südsee, sondern ein höchst gegenwärtiges Sizilien. Vor allem aber ist dieser Roman keine Parabel, sondern eine Geschichte von der Heraufkunft eines Nichts: "Das Meer glich einem Blatt Stanniolpapier, auf dem zwei Inseln lagen, die eine klein und rund wie eine Bacio-Praline, die andere ferner und kleiner. Im Hintergrund glaubte Anna einen schmalen, dunkleren Streifen auszumachen, möglicherweise nur eine Spiegelung oder eine Illusion: das Festland." Es bedarf einer kindlichen, noch an Erwachsenen geschulten Fantasie, um darin eine Hoffnung erkennen zu wollen.

Ein Kind aus behütetem Haus war Anna, bevor ihre Eltern starben, und die Mutter verließ die Tochter nicht, ohne ihr ein umfangreiches Kompendium mit Anweisungen und Ratschlägen zu hinterlassen. Sie gelten vor allem dem Umgang mit Astor, dem kleinen Bruder, aber sie helfen nur bedingt: Gewiss, man kann von den Hinterlassenschaften der alten Welt leben, von Tomaten in Dosen oder mit ein Paar Turnschuhen von Adidas, so lange jedenfalls, bis auch das letzte Kind der Pubertät anheimfällt.

Aber bevor es soweit ist, muss Anna hinaus in eine zur Wildnis gewordenen Ruinenlandschaft. Dort haben sich Banden gebildet, und es regiert die Gewalt, und wo die anderen Kinder nicht sind, da marodieren die Hunde, die, gleichermaßen meist in Rudeln auftretend, erstaunlich menschliche Eigenschaften entwickeln, oft im Bösen, aber manchmal auch im Guten.

In der Schilderung dieser verlorenen Welt entfaltet der Roman seine Qualitäten: "Schafherden weideten neben Denkmälern, bärtige Ziegen kletterten auf Müllcontainer, und zwischen den Autos liefen zahlreiche Pferde und Fohlen herum. Nur der Hafen, der mit Stacheldraht abgegrenzt und von Militärfahrzeugen umstellt war, erinnerte an die brutale Zeit der Quarantäne, aber der Wind trug den salzigen Duft des Meeres herbei, und die Wellen hinter den Kais waren mit Schaumkronen besetzt."

Diese Art des ausführlichen Erzählens, von einem Verständnis allen Figuren gegenüber, auch den schrecklichen, getragen, macht den Roman lesbar, manchmal sogar spannend: In den Details vor allem lässt sich die Angst der Kinder ahnen, und das gilt auch für die Gewalttätigsten unter ihnen.

Wozu das alles, mag man sich da fragen, denn es hat den "Herrn der Fliegen" doch schon gegeben, und nicht nur diesen Roman, sondern auch Cormac McCarthys "Die Straße" (2006) oder die "Tribute von Panem" (2008 bis 2010), sowie zahllose andere Werke der eher hoffnungslosen Art. Eben wegen dieser Angst, wäre auf die Frage zu antworten, weil in Niccolò Ammanitis präziser Redseligkeit eine existenzielle Not erkennbar wird, gegen die es keinen Schutz gibt und gegen die man sich nicht imprägnieren kann: die Not von Nomaden, die sich daran erinnern können, einmal ein Zuhause gehabt zu haben.

Niccolò Ammaniti : Anna. Roman. Aus dem Italienischen von Luis Ruby. Eisele Verlag, München 2018. 336 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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