100. Geburtstag von Leonardo Sciascia:Der Chronist

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Die Akten sprechen lassen: Der Schriftsteller Leonardo Sciascia im Jahr 1980. (Foto: imago)

Ein einzigartiges Werk: Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Leonardo Sciascia erscheinen zwei neue Bände.

Von Thomas Steinfeld

In der Altstadt von Palermo, nur ein paar Schritte entfernt von "La Cala", dem ältesten Teil des Hafens, lag einst ein Konvent der Theatiner. Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist das "Archivio di stato" in den Gebäuden untergebracht, das Staatsarchiv Siziliens. Es besteht im Wesentlichen aus einer großen Halle, die von unten bis oben, von vorn bis hinten mit Akten gefüllt ist, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen. Diesem Archiv ist die historische Erzählung "Tod des Inquisitors" von Leonardo Sciascia zu verdanken.

Sciascia wurde für seine Kriminalromane berühmt, weit über die Grenzen Italiens hinaus, aber er selbst schätzte seine literarischen Arbeiten zur Geschichte Siziliens, auch wenn einige von ihnen von überschaubarem Umfang sind, Parabeln, die in Aufbau und Ton dem Geist einer Chronik verpflichtet sind. Dazu gehört auch der "Tod des Inquisitors".

Zuerst im Jahr 1963 publiziert, ist sie in diesen Tagen erstmals auf Deutsch in einem Band mit dem Titel "Ein Sizilianer von festen Prinzipien" veröffentlicht worden, als "pensierino", als "kleine Aufmerksamkeit" zum hundertsten Geburtstag des Schriftstellers. Berichtet wird darin vom Leben und Leiden des Augustinermönchs Fra Diego La Matina, der um die Mitte des 17. Jahrhunderts von der Inquisition (Sizilien stand zu jener Zeit unter spanischer Herrschaft) verfolgt wurde, seinem Folterer mit der eisernen Handfessel den Schädel einschlug und unter großem Spektakel auf dem Scheiterhaufen endete.

Die Erzählung wahrt das Authentische der Dokumente

Die Geschichte des Fra Diego bewegt sich in Etappen auf ihr fatales Ende zu. Der Mönch gehört selbst zur Kirche, die Inquisition muss den Häretiker in ihm erst ermitteln, und sie tut es, ihrer absoluten Legalität bewusst, mit aller Ausdauer und Brutalität, die sie aufbringen kann. Doch als sie ihrer Sache gewiss ist, wird sie unerbittlich: Fra Diego will noch abschwören, doch es hilft ihm nicht mehr.

Leonardo Sciascia entfaltet diese Geschichte, als würde er zugleich die Akten ordnen, und er tut es mit einem dreifachen Effekt: Er wahrt das Authentische der Dokumente, etwa dadurch, dass er längere Passagen zitiert. Er lässt den Leser teilhaben am Studium, sodass dieser es schließlich ist, der in letzter Instanz über Schuld und Verantwortung zu befinden hat. Und weil er das eigene Schreiben so transparent macht, verdeutlicht er auch, was sich mit Sprache anstellen lässt, um sie als Mittel der Wahrheitsfindung einzusetzen.

Die Inquisition ist bei Leonardo Sciascia mehr als eine historische Einrichtung, die auf Sizilien bis zum Jahr 1783 bestand: Sie erscheint als Figuration staatlicher Macht, die sich über alle Gesellschaftsformen hinweg erstreckt, doch stets im Bewusstsein absoluter Souveränität agiert. Weil es eine solche Souveränität aber nur geben kann, wenn alle Einschränkungen aufgehoben sind, entwickelt jeder Staat, auch der demokratische, ein Interesse daran, diese Einschränkungen zu beseitigen.

Der entführte Ministerpräsident Aldo Moro fühlte sich verraten

Nicht jeder Staat ist ein totaler Staat, bei Weitem nicht. Aber jeder Staat kalkuliert mit der Möglichkeit, ein solcher werden zu müssen, aus welchen Gründen auch immer. Deswegen gibt es Inlandsgeheimdienste oder vielleicht auch italienische Klöster, in denen, wie im Roman "Todo Modo" (1976) dargestellt, klandestine Treffen zwischen den Spitzen von Kirche und Staat arrangiert werden. Von einer solchen Totalität spricht Leonardo Sciascia, wenn er die Inquisition verhandelt, und davon handelt, unter anderem, sein berühmtestes Buch: "L'affaire Moro" ("Die Affäre Moro", 1978).

In der Mitte dieses Werkes, das im strengen Sinn weder Dokumentation noch Essay noch Roman, sondern vielmehr alles zugleich ist, stehen die Briefe, die Aldo Moro, ehemaliger Ministerpräsident Italiens, an seine Parteifreunde, an seine Familie und an den Papst schrieb, während er von den Roten Brigaden gefangen gehalten wurde. Der Politiker fürchtete den Tod, er nahm die Weigerung der regierenden Christdemokraten wie der oppositionellen Kommunisten, nicht mit den Entführern zu verhandeln, als Verrat wahr, er misstraute den Terroristen weniger als den politischen Eliten.

In seiner Verzweiflung wurde er zu einem Häretiker im Sinne Leonardo Sciascias. Gefangenschaft und Tod verwandelten sich in eine Passionsgeschichte. So gelang, was der Autor zum Programm des Buches erhoben hatte: "Ich wollte eher ein religiöses Buch schreiben als ein politisches." Oder anders gesagt: Es gibt für diesen Schriftsteller keine Macht, die nicht auch diabolisch wäre. Und wenn deswegen in den Werken Leonardo Sciascias alle Ketzer scheitern, in vielen Varianten, so steht am Ende jeder Geschichte doch die Aufforderung an den Leser, den Ablauf der Ereignisse noch einmal zu rekonstruieren, anhand der Akten, nach eigenem Sinn und Verstand.

In einem früheren Leben war Sciascia Volksschullehrer ohne Talent

Leonardo Sciascia starb im November 1989 in Palermo, wohin er in den späten Sechzigern gezogen war, nach einem Umweg über Rom. Racalmuto blieb indessen gegenwärtig, oft verkleidet als "Regalpetra". Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn, ebenfalls zum hundertsten Geburtstag des Schriftstellers, ein schmaler Band mit Erzählungen und Berichten erscheint, der vor allem diesem "bitteren Land" gilt, unter dem Titel "Einmal in Sizilien". Er enthält eine Art Chronik des Ortes, einen Bericht über das Verhältnis der Bevölkerung zum Faschismus und eine Reminiszenz an einen Winter, in dem Schnee fiel.

Vor allem findet sich in diesem Buch eine ausführliche Erinnerung an Leonardo Sciascias frühes Leben als Volksschullehrer ohne pädagogisches Talent, datiert auf das Jahr 1955. Aber vielleicht fehlte es damals gar nicht an den persönlichen Fähigkeiten, sondern an den materiellen und kulturellen Voraussetzungen für eine Schule. Nur scheinbar war der Lehrer dem Elend der Arbeiter in den Schwefelgruben enthoben, deren Kinder er zu betreuen hatte. Tatsächlich fühlte er sich beim Betreten der Klasse, als ginge es auch mit ihm geradewegs hinab in ein Bergwerk.

Die Ereignisse in der Volksschule von Racalmuto im Jahr 1955 wären in keinem Archiv erfasst, wenn Leonardo Sciascia sie nicht aufgeschrieben hätte, einem Schulrat zum Trotz, der auf dem gemeinsamen Absingen der Hymne auf Rom bestand. Ein Ketzer ging aus dieser Tat hervor. Später suchte er nach anderen Häretikern.

Daraus entstand ein literarisches Œuvre, für das es zwar Ahnen gibt, in Gestalt von Luigi Pirandello etwa, ebenso wie es Nachfolger fand, in Gestalt von Andrea Camilleri zum Beispiel, das aber in seiner Kritik der Macht und ihrer Techniken einzigartig ist. Eine lebendige Anschauung früherer sizilianischer Verhältnisse bekommt der Leser obendrein. Ein beachtlicher Teil dieses Werks ist auf Deutsch noch lieferbar, meist in schmalen Bänden: Eine Musealisierung wäre ihnen nicht angemessen, eine Lektüre dagegen sehr.

Leonardo Sciascia: Ein Sizilianer von festen Prinzipien. Essayistische Erzählungen. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Edition Converso, Bad Herrenalb 2021. 200 Seiten, 23 Euro.

Leonardo Sciascia: Einmal in Sizilien. Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021. 144 Seiten, 18 Euro.

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