Sechs Jahre ist Jamie Morton alt, als ihm die Begegnung seines Lebens widerfährt. Er sitzt am Straßenrand vor dem elterlichen Haus, in einer kleinen Ortschaft in Maine, versunken ins Spiel mit seinen nagelneuen Plastiksoldaten; er lässt sie stürmen und fallen und macht dabei knatternde Geräusche wie MG-Salven in Comic-Heftchen. "An jenem Tag im Oktober 1962, als das Schicksal der Welt an einem seidenen Faden über einer kleinen tropischen Insel namens Kuba hing, kämpfte ich jedenfalls auf beiden Seiten, was bedeutete, dass ich die Schlacht gewinnen würde."
Mit solch sachtem Humor, mit solch leiser Rührung über die Unschuld des Kindes, das er damals war, spricht der Erzähler, inzwischen ein alter und vom Leben gebeutelter Sünder, aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts. Er weiß es, und er lässt es den Leser, der seinen ersten Schritt in diesen Kosmos tut, immerhin erahnen, dass sich im beiläufigen Augenblick etwas anbahnt, neben dem die Kubakrise bloß wie ein Zwischenfall aussieht.
Schatten über dem kindlichen Schlachtfeld
In diesem Augenblick nämlich schiebt sich ein Schatten über das kindliche Schlachtfeld. "Ich blickte auf und sah einen Mann vor mir stehen. Weil sich die Nachmittagssonne hinter ihm befand, war er eine von goldenem Licht umgebene Silhouette - eine menschliche Sonnenfinsternis." Doch wer glaubt, nun folge gleich die Geschichte einer Traumatisierung, der unterschätzt den ungeheuer langen Atem, den diese Erzählung hat.
Nein, es ist vielmehr der Beginn einer Freundschaft, uneingestanden und desto stärker, zwischen einem noch recht kleinen Jungen und einem erwachsenen Mann, wie sie heute, im Zeitalter des universalen Pädophilie-Verdachts, von ihrem Umfeld nicht mehr geduldet würde. Charles Jacobs ist der neue methodistische Reverend; er lädt Jamie zu sich ins Pfarrhaus ein, um ihm ein Wunder zu zeigen, ein ziemlich lausiges Wunder, wie auch ein Sechsjähriger leicht erkennen kann: Eine kleine Jesusfigur wandelt mit elektrischem Antrieb über blau gefärbtes Wasser, in dem sich eine Führungsschiene verbirgt. Solchen elektrischen Basteleien gilt die besondere Liebe des jungen Geistlichen, gleich nach seiner hübschen Frau Patsy, deren blonder Schopf hin- und herschwankt, wenn sie in der Sonntagsschule das Harmonium traktiert, und seinem kleinen Sohn Morrie, der noch neu auf den Beinen ist. Ach ja, und nebenbei bewirkt er mit seinem Elektro-Krimskrams eine erstaunliche Spontanheilung bei Jamies Bruder, dem er die verlorene Stimme zurückgibt.
Eine Leseprobe des Romans stellt der Verlag hier zur Verfügung.
In einigen seiner letzten Bücher, das ist wahr, hat es sich der Autor Stephen King etwas arg gemütlich gemacht. Nicht so in diesem. Der Reverend verliert Frau und Sohn bei einem grässlichen Verkehrsunfall und hält am nächsten Sonntag, was als "furchtbare Predigt" in die Annalen der Kongregation eingehen wird. Er gebärdet sich als ein Hiob, der sich in sein Los nicht ergibt, zählt mit bitterem Sarkasmus einen Fall nach dem andern auf, in dem Gott seine Schäfchen nicht nur getötet hat, sondern geradezu verhöhnt zu haben scheint - eine Pfarrgemeinde beispielsweise, die von einem Tornado ausgelöscht wird, gerade als sie sich zu einer Dankesfeier versammelt - und muss danach natürlich in Schanden sein Amt verlassen. Sein Jesus ist untergegangen.
Danach bleibt der Leser lang mit Jamie allein und begleitet ihn durch Highschool, erste Liebe, eine Laufbahn als zweitklassiger Rock-Gitarrist und den totalen Absturz in den Drogensumpf der Achtziger- und Neunzigerjahre. Ein Zufall führt ihn, als er kurz vor dem sozialen und physischen Aus steht, in einen schäbigen kleinen Elektroladen, den natürlich niemand anderes betreibt als Jacobs, der gefallene Reverend; und wieder vollbringt er ein elektrisches Mirakel, das vor den Augen der Wissenschaft zwar vermutlich nicht standhielte, aber Jamie auf die Beine bringt und kuriert. Und wieder einige Zeit später trifft er Jacobs als Marktschreier auf einem Volksfest im tiefen Mittelwesten, wo er hingerissenen jungen Frauen zu märchenhaften Wunschbildern ihrer selbst verhilft.