Wenn man von Prag aus mit dem Zug nach Jičín will, kann man über Pardubice fahren, wo im Bahnhofsgebäude noch ein Riesenmosaik der Tschechoslowakei hängt, die es ja auch schon längst nicht mehr gibt. Von Pardubice geht es nach Hradec Králové, "und das ist interessant jetzt", sagt Jaroslav Rudiš und zeigt aus dem zerkratzten Zugfenster, "da siehst du bald den Svíber Wald", wo die Katastrophe des 20. Jahrhunderts ursprünglich ihren Anfang nahm, jedenfalls sagt Wenzel Winterberg das, die Schlacht von Königgrätz 1866, zigtausend Gefallene. Als Münchner Ignorant sieht man dagegen nur das pittoreske Jetzt: verschneite Felder, Rehe, Hasen, alte Häuser, die sich vor dem Winterwind ins sanfte Gehügel zu ducken scheinen. Von Hradec Králové geht es mit einer Zuckelbahn weiter, in der man die Fenster nicht öffnen kann, "entweder du erfrierst da drin oder du wirst gekocht", sagt Jaroslav Rudiš rundum begeistert.
Zwei Tage mit dem tschechischen Autor Jaroslav Rudiš quer durchs böhmische Hinterland, im Zug und im Auto, auf den Spuren seines neuen Romans. "Winterbergs letzte Reise" (Luchterhand-Verlag, 24 Euro) ist für den Leipziger Buchpreis nominiert, eine irre Railroadnovel quer durch Mitteleuropa: Böhmen, Mähren, Prag, Wien, Budapest und Balkan, der einzige Reiseführer, den die beiden Protagonisten dabeihaben, ist ein k.u.k.-Baedeker von 1913. Und da es im Zug von Hradec Králové nach Jičín tatsächlich so stickig ist, dass die Hälfte des Wegs von allen Passagieren verdöst wird, kann man ruhig erst mal erzählen, was das für ein Buch ist.
Der Altenpfleger Jan Kraus begleitet seit Jahren in Berlin Sterbende bei ihrer "Überfahrt". Als er zu Wenzel Winterberg gerufen wird, scheint es nur noch um Tage zu gehen, der Mann ist 99 und hatte drei Schlaganfälle hintereinander, er liegt im Bett und spricht nicht mehr. Bis ihm sein Pfleger erzählt, dass er eigentlich aus Winterberg stammt, dem heutigen Vimperk. Das setzt im uralten Winterberg einen inneren Motor in Gang, er kommt ins Reden und damit zurück ins Leben, das in seinem Fall vor allem aus Erinnerungen besteht, anfangs an seine eigene Vergangenheit, er wurde 1918 geboren (dem Jahr, in dem die Tschechoslowakei aus den Trümmern der k.u.k-Monarchie hervorgegangen ist), seine mittelglücklichen Ehen, seine Vertreibung aus dem Sudetenland 1945, die Jahre als Westberlins letzter Straßenbahnfahrer, und immer wieder seine erste Liebe, Lenka, mit der ihn, das merkt man früh, eine schmerzhafte Schuld verbindet.
Ihre letzte Postkarte schrieb Lenka ihm 1939 aus Sarajevo, und Winterberg kann Kraus überreden, mit ihm aufzubrechen, Lenka hinterher, erst nach Liberec/Reichenberg, dann über Königgrätz und Jičín nach Pilsen, Wien, Brünn und immer tiefer rein in die Geschichte und in Winterbergs Gerede, denn sie sind kaum losgefahren, da fängt Winterberg an mit seinen Monologen, die ähnlich rhythmisiert dahin rattern wie ein Zug zwischen sagen wir Hradec Králové und Jičín: "Ja, ja, jetzt fahren wir kurz über Polen, Polen war hier früher natürlich nicht, sagte Winterberg, so ist es, mit nichts wird in Europa so rangiert wie mit den Grenzen, so war es, so ist es, so wird es sein, ja, ja, manchmal denke ich, die Grenzen hier sind nur dafür da, dass man sie verschieben kann."
"Und das ist intressant jetzt", sagt Jaroslav Rudiš
Wenzel Winterberg könnte eine Figur von Thomas Bernhard sein, so repetitiv wie er sich durch die Sprache arbeitet, so stur wie er auf seinen Idiosynkrasien beharrt. Der Text erinnert in seinem stampfenden Vorwärts an das Rattern alter Züge, und der Text gerät, gerade durch die Wiederholungen, mit der Zeit in eine starke Schwingung, so wie die Leitungen, die neben Zügen entlanglaufen und mit zunehmendem Tempo zu tanzen beginnen, aber dann sind wir auch schon in Jičín.
Ein winziger Bahnhof hinterm Industriegebiet, das stille Schneetreiben macht's auch nicht wirklich mondäner. Wobei Wenzel Winterberg das anders sieht: "Ja, ja, sagte er, wenn die Geschichte ein Eisenbahnnetz wäre, wäre Jičín ein Hauptbahnhof, Wallenstein, der Krieg von 1866, auch Bismarck war hier." Was etwas übertrieben ist, eine einzige Nacht hat Bismarck hier geschlafen, aber - "und das ist interessant jetzt", sagt Jaroslav Rudiš -, diese eine Nacht hat er immerhin im Geburtshaus von Karl Kraus verbracht, "da kommen wir heute Abend dran vorbei, wenn wir in die Sauna gehen." Rudiš freut sich jetzt schon drauf, genauso wie aufs Bier danach. Er scheint sich ohnehin immer auf irgendwas zu freuen und es wird schnell klar, dass ihn mit dem geschichstrunkenen Wenzel Winterberg viel verbindet, die rastlose, sprachliche Energie genauso wie die "historischen Anfälle", wie Winterberg das nennt, wenn ihn wieder die Erinnerungen an die Traumata der Geschichte durchschütteln, die Mitteleuropa immer neu überprägt haben wie dichte Sedimentschichten.
Auf dem Weg ins Städtchen kommen wir an einer Buchhandlung vorbei, "und das ist interessant jetzt", sagt Rudiš, "Jičín hat drei Buchhandlungen." Bei gerade mal 16 000 Einwohnern. Sie haben ein Kino, ein Theater, Schwimmbad, Sauna, volle Restaurants. Die umliegenden Kleinstädte prosperieren ähnlich. In seinem Heimatdorf Lomnice, 5000 Einwohner, gibt es einmal monatlich Programmkinoabend, zuletzt wurde Kaurismäki gezeigt, "im finnischen Original mit tschechischen Untertiteln, trotzdem voll", sagt Rudiš.
Kurzum: Es geht den Tschechen wirtschaftlich prächtig, niedrigste Arbeitslosigkeit der EU, und einer von Rudiš Freunden, der in der Immobilienbranche tätig ist, sagt abends in der Kneipe, die ersten Familien zögen von Liberec ins sächsische Zittau rüber, weil es da billiger ist. Klingt großartig. Gleichzeitig schottet sich das Land politisch ab, die Hetze gegen die EU und alles Fremde prägt auch hier den politischen Diskurs. Im Nachwort zu seinem Roman "Nationalstraße" von 2015 gibt Jaroslav Rudiš einen in seiner traurigen Lakonie schon wieder lustigen historischen Abriss über sein Heimatland: "Von Österreich-Ungarn haben wir uns 1918 getrennt, 1938 kamen die Nazis, die alle Juden umgebracht haben. Die vielen Deutschen, die in der Tschechoslowakei lebten, wurden nach Kriegsende vertrieben. Kurz nach der Wende haben wir uns von den Slowaken verabschiedet. Ich wollte ein Buch schreiben über die absurde Einsamkeit, in der wir leben." Für Rudiš ist diese Selbstamputation bis heute fast körperlich spürbar, sagt er.
Und man steht dann da in der Buchhandlung inmitten dieser unbekannten längst bekannten Bücher und Autoren
Auch deshalb hat er, der seit Jahren in Berlin lebt, sich die Mühe gemacht, seinen immerhin 540 Seiten dicken neuen Roman auf Deutsch zu verfassen. "Weil die Zweisprachigkeit immer zu dieser Gegend gehört hat. Jedenfalls bis 1945. Nach dem Krieg wurde auch die Sprache bestraft - dass das Böhmisch-Deutsche verloren ging, ist einer der größten kulturellen Verluste dieses Jahrhunderts", sagt er, während er durch die Buchhandlung streift.
Der Verlust ist ja doppelseitig. Wer kennt schon Böhmen? Oder die tschechische Literatur? Irgendwie gelten doch für die meisten immer noch die europäischen Grenzen von 1989. Die tschechische Literatur ist geografisch so nah und doch so weit weg. Havel, ja, und Hašek. Aber kennen Sie Emil Hakl? "Das musst du lesen", sagt Rudiš und holt ein Buch aus dem Regal. "So ein großer Autor, ,Regeln des lächerlichen Benehmens', wunderbar". Oder Jáchym Topol? Oder Radka Denemarková? Das musst du lesen, sagt Rudiš immer wieder, und man steht dann da in der Buchhandlung inmitten dieser unbekannten längst bekannten Bücher und Autoren, die in den kommenden Tagen alle nach Leipzig kommen und weiß nicht mal, was nein und danke heißt, aber wir müssen jetzt los, das musst du sehen, den Svíber Wald.
Eine Stunde später steht Rudiš auf dem Hügel bei Chlum, das Restaurant heißt "Am Schlachtfeld", die 2. Armee der Preußen kam damals von hinten heraufgezogen, die Österreicher hatten sie nicht rechtzeitig bemerkt, sie wurden vernichtend geschlagen, Preußen wurde danach zum Deutschen Reich und stieg endgültig zur Großmacht auf und jetzt steht hier eine Säule, die an "Die Batterie der Toten" erinnert, der ganze Wald dahinter ist ein wilder Friedhof ohne Gräber, noch Jahrzehnte später soll sich die Erde bewegt haben von all den verwesenden Körpern. Rudiš steht da, das Schneetreiben ebnet alles ein, "verschwunden, ausgelöscht, keiner weiß mehr, was hier los war", sagt er.
Unglaublich, was hier getrunken wird, Bayern ist dagegen ein Fastenbiotop
Auf dem Weg zurück nach Jičín, das nur 70 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt ist, erzählt Rudiš von der kollektiven Verblüffung nach '89. "Wir sind Mitteleuropäer. So haben wir uns immer gefühlt. Mittendrin. Dann kommt der Mauerfall, alles ist endlich wieder nah, und es heißt, ,ah spannend, ihr seid doch diese rätselhaften Osteuropäer'. Wir waren fast 400 Jahre Teil von Österreich. Und in den Wappen vieler Städte in der Lausitz prangt noch der böhmische Löwe." Rudiš sagt so etwas ohne Geschichtsidealisierung, eher verwundert über die Kraft des Vergessens und dieser riesigen Umwälzpumpe namens Zeit.
Irgendwie haben wir uns jetzt verplaudert, was einem aber mit Rudiš eigentlich immer und überall so geht. Wir wollten aber doch noch unbedingt in diese Kellerkneipe in Jičín, nach drei Abenden in Böhmen muss man das Thema Bier irgendwo unterbringen, es ist unglaublich, was hier getrunken wird - Bayern ist dagegen ein Fastenbiotop. Man versteht danach, warum "Winterbergs letzte Reise" solch einen enormen Alkoholpegel hat, alle paar Seiten trinkt Jan Kraus ein Pils. Rudiš sitzt hier jeden Abend mit seinem urphilosophischen Freund Milan. Milan, der sagt, er sei wunschlos glücklich, seine Frau habe ihm zum 50. Geburtstag ein Grab geschenkt und zum 60. eine Urne, jetzt habe er alles. Milan, der jeden Abend das Bild schief hängt, das hinter seinem Tisch böhmische Hügel zeigt. Der Wirt rückt es am Morgen wieder gerade "unser tägliches Tauziehen mit der Realität", sagt Rudiš. Die Wand hat einen halbkreisförmigen Kratzer von dem jahrelangen Spiel. "Prost", sagt Rudiš, "auf Königgrätz!" "Ja", sagt Milan begeistert. "Auf die Niederlage!"
Leider schaffen wir es so nicht mehr in die Sauna, obwohl es von Rudiš ein ganzes Buch gibt, das nur in der Sauna spielt, "Böhmisches Paradies", in Tschechien ein Besteller, 16 Männer sitzen, schwitzen und reden im Kreis herum, das ganze Leben, eh schon wurscht, und versteh einer die Frauen. Im Buchladen von Jičín kam am Ende noch eine Frau auf Rudiš zu und bat ihn, ein Exemplar zu signieren. "Aber", fragte sie und schaute dabei so skeptisch auf das Buch, als würden sie darin keine Sätze sondern 16 nackte Männer erwarten, "ist das denn auch was für Frauen?" "Naja", sagte Rudiš, "Sie gehen doch auch in die Sauna, oder?" Das hat sie überzeugt.
Momentan ist Rudiš übrigens mit seiner in Tschechien weltberühmten "Kafka Band" in Deutschland unterwegs. Sie haben "Amerika" sehr frei vertont, Kafkas Romanfragment, es lohnt sich unbedingt, das anzuhören. (Leipzig, 20.3., München im Literaturhaus, 27.3.)