Reisebericht:Mitten in Europa

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Die Ukraine ist dermaßen zerrissen, dass von allem auch immer das Gegenteil gilt. Kein Wunder also, dass Jens Mühling kein einheitliches Bild des Landes liefert. Und ihn die Reise verstört hat, aber auch hoffnungsfroh stimmt.

Von Nicolas Freund

Das Zentrum Europas liegt in der Ukraine, und zwar in den Karpaten. Genau neben einem windigen Parkplatz in der Nähe von Rachiw. Markiert wird es von einem blau-weißen, brusthohen Obelisken, den man, so behaupten wenigstens die Fremdenführer dort, dreimal umrunden soll. Das bringe Geld, Glück oder beides. So genau kann das niemand sagen. Auch das mit dem Mittelpunkt Europas ist eigentlich nicht so ganz sicher. Aber die Touristen glauben es gerne und die Geografie-Studenten in Lwiw ebenfalls. Es kommt ja nur darauf an, ob man Kasachstan zu Europa zählt oder nicht.

Sicher ist, dass die Ukraine näher ans Zentrum Europas gerückt ist, wo auch immer dieses liegen mag. Die orangene Revolution von 2004 ist weiter westlich mit großer Anteilnahme verfolgt worden, wie auch die Straßenkämpfe während der Maidan-Proteste im Winter 2013 / 2014, als im Zentrum Kiews Barrikaden errichtet wurden, von denen man meinte, es gäbe sie nur noch auf Gemälden von der Französischen Revolution.

Die Bar ist auch Waffenlager, und immer wieder tischt einer Verschwörungstheorien auf

Die Geschichte vom vermeintlichen Zentrum Europas ist eine Anekdote aus "Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine" von Jens Mühling, die in ihrer rührenden Skurrilität sehr viel über dieses Land erzählt, das ein unabhängiger Staat sein will, aber gleichzeitig, je nachdem, wen man fragt, auch ein Teil Russlands oder Europas sein möchte. Der Journalist Mühling hat mehrere Jahre in Moskau gearbeitet und ist inzwischen Redakteur beim Tagesspiegel in Berlin. Für seine literarische Reportage hat er von Galizien im Westen über Kiew bis nach Donezk im Osten kleine Geschichten über die Ukraine und ihre Bewohner gesammelt und selbst erlebt.

Die schwarze Erde aus dem Titel kann für die Erde der Ukraine stehen, angeblich eine der fruchtbarsten der Welt, aber auch für den verbrannten Boden, den Kriege und Konflikte bis heute auf dem Territorium hinterlassen. Die Zerrissenheit der Region ist das Thema des Buches, dem sich Mühling aber unkompliziert annähert. Skurriles wie die Geschichte von dem angeblichen Zentrum Europas, das übrigens nur ein alter Fixpunkt zur Vermessung des ehemaligen Habsburgerreichs ist, erzählt er humorvoll und unterhaltsam. Oft sind seine Berichte aber kritisch und besorgt: In Lwiw besucht er eine Bar, die zugleich als Waffenlager der Nationalisten dient. In Berdytschiw holt er weit aus und erzählt die Geschichte des Rassenkundlers Karl Stumpp, der in der Gegend nach Volksdeutschen suchte. Bei Kiew besichtigt er das bizarre Anwesen des Ex-Präsidenten Janukowitsch, inklusive Yachthafen, Salzgrotte und eigenem Jagdrevier. Einmal wird er verhaftet. Verstörend sind Antisemitismus, Verschwörungstheorien und faschistische Weltsichten, die ihm immer wieder aufgetischt werden.

Keines der Gespräche und Erlebnisse taugt richtig zur Allegorie: Die eine Erzählung von der Ukraine gibt es in diesem Buch nicht , sondern nur Geschichten, von denen jede einen Teil des Landes zeigt und die alle für sich selbst stehen können.

© SZ vom 15.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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