Regisseur:Gedehnte Zeit

Lesezeit: 2 min

Philip Gröning wird eine Hommage gewidmet. Unter anderem zu sehen: sein neuer Film "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot".

Von Anna Steinbauer

Wenn Zeit Hoffnung ist, gibt es dann Hoffnung ohne Zeit? Diese und andere philosophische Fragen stellen sich das Zwillingspaar Elena und Robert gegenseitig. Das Mädchen steht kurz vor der mündlichen Abiturprüfung in Philosophie, und der Bruder soll ihr beim Lernen helfen. Es ist Sommer, die Ähren auf dem Weizenfeld sind prall und die große Freiheit nach der Schule liegt in greifbarer Nähe. Die beiden haben es sich auf der Wiese neben der Tankstelle an einer wenig befahrenen Landstraße gemütlich gemacht. Dort werden sie zwei Tage lang ausharren, sich necken, streiten, liebkosen, Wetten abschließen, Bier trinken, Insekten fangen und Augustinus und Heidegger zitieren. Doch das ist nur der Anfang von Philip Grönings Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot, der seine Premiere im Februar auf der Berlinale hatte. Das Filmfest München widmet dem Regisseur eine Hommage, die sich auf sein Frühwerk konzentriert und zeigt auch den polarisierenden wie verstörenden Film, der die Kritik spaltete.

Grönings dreistündiges Zwillingsdrama steigert sich nämlich gegen Ende zu einem blutigen Thriller, in dem sämtliche Schranken überschritten werden. Das symbiotische Geschwisterpaar will die Zeit aufhalten, sie mit ihrem spielerischen Hin und Her dehnen, mit aller Gewalt: Denn ihre Trennung steht bevor, nach der Schule bricht ein neues Leben an. Zwischen Robert und Elena herrscht eine inzestuöse Energie, die immer wieder spielerisch abgefangen wird und sich in Ersatzhandlungen entlädt. Sie treiben ihr Spiel an die Grenzen und darüber hinaus: Plötzlich ist Gewalt dabei, Blut fließt, und der Tankwart wird unschuldiges Opfer. Zeit spielt in Philip Grönings Filmen eine enorme Rolle. Zeitgeschichte, erzählte und vom Zuschauer erlebte Zeit, aber auch die Zeit, die zwischen seinen Projekten liegt.

Der 1959 in Düsseldorf geborene Filmemacher studierte zunächst Psychologie und Medizin, dann Regie an der HFF München. Bekannt wurde er mit dem Dokumentarfilm Die große Stille, für den er den 2006 den Europäischen Filmpreis bekam. Einige Themen wie das (Kamera)spiel zwischen idyllischer Naturbetrachtung und analytischer Beobachtung menschlicher Beziehungen sowie die Wirkung von Gewalt, die im Strudel der Ereignisse Unschuldige zu Opfern macht, lassen sich auch in Grönings frühen Filmen finden: Im Spielfilmdebüt Sommer zieht sich ein Vater mit seinem autistischen Sohn in die Alpen zurück, während in der Groteske Die Terroristen! drei junge, selbsternannte Terroristen ein Attentat auf Helmut Kohl planen. Außerdem werden die Kurzfilme Stachoviak! und Opfer. Zeugen, bei denen die Videokünstlerin Hito Steyerl die Kamera führte, zu sehen sein. Gröning dreht immer ohne Drehbuch, macht mittlerweile Kamera, Regie und Schnitt selbst und hat stets genaue Vorstellungen von seinem Drehort. Im Gegensatz zu seinen Protagonisten möchte er - zumindest was seine filmische Arbeit angeht - nicht der chaotischen Gegenwart ausgeliefert sein.

© SZ vom 28.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: