Popkolumne:Schmachtfetzen

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Die Lage im Pop. Diesmal mit neuer Musik von Björk, Chance The Rapper, Sufjan Stevens und Karl Blau - und mit der Antwort auf die Frage, warum es einem beim Hören des neuen Album von Xavier Naidoo doch warm ums Herz wird.

Von Julian Dörr

Liebe ist ja das vielleicht übelste Pop-Wort überhaupt. Und das wichtigste. Gerade jetzt. So sieht das auch Björk, deren neues Album "Utopia" (Embassy of Music/Warner) in dieser Woche erscheint. Einem Reporter der New York Times verriet sie, das es als "Liebesbrief an die Begeisterung und an das Schwärmen" verstanden werden soll. Und genau das brauchen wir zum Ausklang dieses ziemlich ernüchternden Jahres. Überall schlechte Neuigkeiten, dramatische Entwicklungen, gespaltene Gesellschaften. Weshalb Björk nun den Optimismus-Notstand ausruft: "Statt zu jammern oder wütend zu werden, sollten wir uns überlegen, wie die Zukunft aussehen könnte. Dieses Album soll ein Vorschlag dazu sein, wie wir leben könnten." Ihr neuer Song "Blissing Me", die zweite Single aus der kommenden Platte, ist dann schon einmal ein zartgezupftes Stückchen Harfen-Pop mit dezent verklapptem Beat, zu dem die isländische Sängerin die vergleichsweise schlichte Geschichte zweier Musiknerds erzählt, die sich MP3-Dateien hin- und herschicken und sich so verlieben. In Björks Paralleluniversum kommt das einem dick aufgetragenen Schmachtfetzen gleich.

Einen Tag bevor Björks neues Album erscheint, feiern die Amerikaner Thanksgiving. Und zu Thanksgiving gibt es in den USA nicht nur Truthahn und Familienstreit, sondern auch eine Festtagsfolge der Satire-Institution "Saturday Night Life". Durch die führte am vergangenen Wochenende Gastgeber Chance The Rapper. Gleich im Eröffnungsmonolog verkündete er, er werde zu diesem Fest die Mariah Carey in sich rauslassen. Dass es am Ende doch eher die Boyz II Men in ihm geworden sind - umso großartiger. Zu superseichtem Retro-R'n'B sehnen Chance und seine beiden Mitsänger einer verlorenen Liebe hinterher: "Jede Nacht schalte ich den Fernseher an und weine" - nur geht es dabei nicht um die eine, die es hätte sein können, sondern um den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. "Komm zurück, Barack!", fleht Chance, denn die Dinge sähen "richtig schlecht, nuklear-schlecht" aus. In seiner fingerschnipsenden Harmonieseligkeit ist der Song die Musik gewordene Bill-Cosby-Show, die Sehnsucht nach einer Welt, in der niemals etwas Schlimmes passiert. Das muss man unbedingt naiv finden, man kann es sich nach so einem Jahr aber auch einfach mal wünschen.

(Foto: N/A)

Einer, der sein künstlerisches Schaffen auf eben diesem Gefühl der naiven Sehnsucht aufgebaut hat, ist der Sänger und Songwriter Sufjan Stevens. Er veröffentlicht mit "The Greatest Gift" (Asthmatic Kitty) dieser Tage eine Fortsetzung zu seinem auch schon zwei Jahre alten, aber immer noch rührenden Familien-Album "Carrie & Lowell". Dass ein Großteil der Songs auf der neuen Platte nun Remixe sind, die den Originalen an emotionaler Dringlichkeit nichts hinzuzufügen haben: geschenkt. Weil ja allein die vier neuen Stücke (nur ein Mensch ohne Herz würde sie Outtakes nennen) sehr, sehr viel platt, leer und dumm erscheinen lassen, was sonst so im Pop so verführerisch funkelt. "The Hidden River of My Life" oder "City of Roses" sind Folksongs, deren gütiger Gott einen immer wieder umschubst, aber dann doch wieder aufhebt - auf dem Weg zur Erlösung durch die alles erfüllende Liebe.

(Foto: N/A)

Wenn wir hier über die große Liebe reden, müssen wir auch über Heckscheibenaufkleber reden. Wer hätte gedacht, dass in etwas so Banalem eine der filigransten Liebeserklärungen des aktuellen Pop stecken könnte. Die Geschichte geht so: Karl Blau bremst für Katzen. Weshalb er im ersten Song seines neuen Albums "Out Her Space" (Bella Union) singt: "Fahr langsam, weil die Katzen in der Nacht rauskommen / Und sie werden das mit den Autos niemals verstehen". Blau schmiegt dabei seine Stimme so zärtlich um die Sätze, als wolle er die armen, überforderten Katzen auch gleich noch in kleine Wortpölsterchen hüllen, um sie mit einer zarten Jazz-Trompete von der Straße zu hauchen. Die armen, überforderten Katzen sind natürlich wir, die Zuhörer. Und die Fahrer auch. So schön hat lange keiner mehr über Entschleunigung gesungen. Der Rest der Platte, die zwischen Jazz, Folk und Afropop herumtänzelt, ist übrigens auch sehr gut.

Und noch ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, Xavier Naidoo sei ein richtiger Künstler. Man vergesse kurz den ganzen Aluminium-Hut-Quatsch und Reichsbürger-Unfug, den er gern erzählt, aber auch den Hass und die Häme seiner Feinde. Und dann höre man die vierzehn Lieder seines neuen Albums "Für dich" (Naidoo Records): "Gib mir Liebe", "Bei dir sein", "Bereit für die Liebe" und die anderen plumpen Songs für Menschen, die gute Musik auf einem Fernsehshow-Sampler suchen. Warum nur wird es einem dabei trotzdem warm in der Brust? Ganz einfach: Weil Xavier Naidoo verdammt noch mal Soul hat.

© SZ vom 22.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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