Popkolumne:Herolde der ewig Verklemmten

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Neue Musik von Travis, Future Islands, Anderson Paak und dem Sun Ra Arkestra - sowie die Antwort auf die Frage, wie man aus einem Kitsch-Satz die reine, tröstende Wahrheit machen kann.

Von Jens-Christian Rabe

So viel kann man vielleicht doch schon sicher sagen: Die Corona-Pandemie hat die deutsche Popmusik nicht wirklich inspiriert. Kaum mehr als, wie der Musikexpress schrieb, "Erbauungs-Terror" (Max Giesinger, Silbermond, Die Höhner). Oder eben mit Anlauf albern, aber Jazz (Helge Schneiders "Forever At Home"). Bestenfalls leidlich vernünftig, wenn auch eher schmerzfrei gereimt ("Manche Menschen denken, der Virus sei nicht zu stoppen/Aber ich glaube an Christian Drosten", Fatoni). Aber dann kamen schon Carsten " Erobique" Meyer und der Stand-Up-Comedian Oliver Polak mit ihrem vergnügt-elegischen Disco-Schaukler "Forever Corona". Klatsch, klatsch. Tröstlicher leicht lallend singen als Polak kann man nicht. Und dann noch das Video zum Song mit dem Zeitlupen-Hund mit den vielen Haaren und dem Fön! Wer danach nicht wenigstens einen halben Tag lang mit einem Schirmchen über den Bordstein durch den Nieselregen tänzeln will, der sollte fortan seine Maske auch zu Hause tragen. Die freundliche, warme Variante des guten alten Galgenhumors. Spielzeugdiscokugelhumor. Klatsch, klatsch.

(Foto: N/A)

Verwehter Uptempo-Synthie-Indiepop, gesungen von einem heiseren Mann mit schütterem Haupthaar und gigantischen Geheimratsecken, der seine T-Shirts und Hemden gerne in der Hose trägt und seine Gürtel deutlich zu weit über der Hüfte. Samuel T. Herring, Sänger der amerikanischen Band Future Islands, sieht eher aus, wie, hm, ein trauriger Verwaltungsbeamter beim Feierabendbier. Am Mikrofon ist er dann natürlich ein Gigant der unterdrückten großen Gefühle. Herold aller im Alltag ewig schüchtern Verklemmten, aller von den Umständen verhinderten Romantiker. Anders gesagt: Herring und seine Band sind so etwas wie die unwahrscheinlichsten und gleichzeitig überzeugendsten Indiepop-Helden der Gegenwart - und auch auf ihrem neuen, sechsten Album "As Long As You Are" (4AD) vollkommen auf der Höhe ihrer Kunst. Wenn man in der feuchten Dunkelheit des Herbstes abends erschöpft nach Hause fährt in irgendeiner Stadt, sollte man sich zu dieser Musik von den orange-roten Lichtern der Straßenlaternen blenden lassen.

(Foto: N/A)

Die große Zeit der schottischen Brit-Pop-Band Travis um Sänger und Songwriter Fran Healy ist jetzt auch schon wieder ein paar Jahre her. Aus der zweiten Reihe hinter Oasis und Blur servierten Travis mit "U16 Girls", "Tied To the 90s" und natürlich "Why Does It Always Rain On Me" in den ausgehenden Neunzigern aber einige sehr schöne Folk-Rock-Hits für Indie-Jungs vom Gymnasium mit Weltschmerz ohne Grund. Und dann gelang ihnen nebenbei noch die beste Coverversion aller Zeiten des Britney Spears' Hits ". . . Baby One More Time", die offenbarte, was für große Songwriterkunst sogar im Kirmes-Pop der Neunziger stecken kann, wenn man ihn nur mit einer akustischen Gitarre spielt. Anders als ihre großen Bewunderer von Coldplay bogen sie allerdings nach dem frühen Ruhm nicht in Richtung blitzeblank glasiertem Highscore-Stadionpop ab, sondern machten irgendwie immer weiter mit demselben, nur mit weniger Erfolg und weniger guten Song-Ideen. Respektabel, aber nicht mehr wirklich zwingend. Und so klingt leider auch das neue, neunte Studioalbum "Ten Songs" (BMG), obwohl Fran Healy schon immer noch die beste leicht angekratzte Stimme der Welt haben kann - und die wunderbar tastend angerumpelten ersten 44 Sekunden von "Valentine" den Eindruck erwecken, dass in dieser Band mindestens noch ein famoses Album steckt. Vielleicht wäre eine Platte mit formvollendet dahingeschrammelten akustischen Cover-Versionen der Mainstream-Pop-Songs der jüngeren Vergangenheit ein Anfang.

(Foto: N/A)

Seit dem Tod von John Gilmore 1995 leitet der 96 Jahre alte Saxophonist Marshall Allen das Sun Ra Arkestra, das berühmteste Avantgarde-Jazz-Ensemble. Wobei das viel zu anstrengend und ehrwürdig klingt für den kunstvoll verbeulten Orchester-Jazz, den es auch auf dem fabelhaften neuen Album "Swirling" (Strut Records) zu hören und zu bestaunen gibt. "The Sky is a sea of darkness / When there is no sun to light the way", heißt es an einer Stelle im Chor - der Himmel ist ein Meer der Finsternis, wenn es keine Sonne gibt, die den Weg weist. Und die Pointe ist natürlich, dass aus diesem Kitsch-Satz ein einziger schräger Saxophon-Ton im richtigen Moment eine reine, tröstende Wahrheit machen kann.

Bliebe nur noch eine dringende Empfehlung: die neue, hinreißend rollende Single "Cut Em In" von R'n'B-Genie Anderson Paak. Große, weise Ode an die Freundschaft. Unwahrscheinlich, dass das Jahr noch eine größere bringen wird.

© SZ vom 07.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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