Pop:Von einem, der auszog, um Igor zu werden

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Tyler, the Creator, war mal der Klassenclown auf Twitter: Doch die Stärke seiner Stimme ist nun so gebrochen wie der Charakter, den sie spricht. (Foto: AFP / Getty Images)

Tyler, the Creator, erzählt auf seinem neuen Album von allen Stadien der Liebe.

Von Jonas Lages

Ende der Nullerjahre wurde Tyler, the Creator als Vordenker des Hip-Hop-Kollektivs Odd Future aus Los Angeles berühmt, zu deren Alumni so illustre Größen wie das enigmatische Pop-Genie Frank Ocean oder Syd, die Sängerin der famosen Funk-Truppe The Internet, gehören. Tyler Gregory Okonma war da so etwas wie der Klassenclown einer neuen Hip-Hop-Generation, die, fernab von Plattenfirmen und traditionellen Medien, in Eigenregie durch die Präsenz in sozialen Medien zu Berühmtheit gelangte und so ein neues Paradigma im Hip-Hop schuf.

Einerseits blödelten seine Jungs herum und rissen vulgäre Witze, wie man sie, wenn überhaupt, eben nur als Teenager lustig finden kann. Okonma war dabei der geborene Twitter-Troll, der in seinen Aphorismen die Grenze zwischen Schwachsinn und Genialität traumwandlerisch auslotete. Andererseits lebten Okonmas frühe Platten "Bastard" und "Goblin" von einer Strategie, die Eminem eine Dekade zuvor perfektioniert hatte: kalkulierte Provokationen und Tabubrüche.

In tarantinohafter Überzeichnung rappte er in Rollenprosa allerlei Geschmacklosigkeiten und übertrug das Potenzgehabe des Rap in einen Wettbewerb der wortspielreichen Gewaltfantasien - misogyn, homophob, abstoßend. Der Aufschrei des Establishments war sicher. Die Sympathie der jungen Fans ebenso. Die Dialektik der jugendlichen Rebellion.

Aber auch ein Klassenclown wird mal erwachsen, zumindest ein klitzekleines bisschen. Vielleicht. Von den Themen seines Frühwerks hat sich der 28-Jährige verabschiedet; vor zwei Jahren gelang ihm dann mit dem selbst produzierten "Flower Boy" eine Neuerfindung und so seine bisher beste Platte.

Auf dem Cover steht er von Bienen umschwirrt in einem Blumenfeld. So klang das Album auch: nach innen gekehrt, Veränderungen lauschend, mit einem Ohr für Pop-Melodien geschrieben. Und jetzt?

Das Album ist mehr als die Summe seiner Teile: detailverliebt, durchkuratiert, perfektionistisch

Nun, manchmal muss man eine Tür schließen, um ein Fenster zu öffnen, heißt es auf dem neuen sechsten Album "Igor" (Columbia). Und genau das hat Tyler, the Creator auch getan. Und dann den Fuß in die Luft gesetzt. Und sie trug. Dabei gelingt ihm doch tatsächlich das Kunststück, eine Sommerplatte zu machen, die eigentlich ein Trennungsalbum ist. Hier werden die Trostlosen erst getröstet und sonnenbeschienen und dann wohl noch ein bisschen desillusionierter mit Funk und Soul durch die Abendstunden geschaukelt.

Das famose "Earfquake" etwa lässt seine Hörer auf kosmischen Claps und sphärischen Synthie-Wolken davon schweben. "What's Good" dagegen, ein kathartisches Randale-Brett, führt mit verzerrtem Moshpit-Material kurzzeitig in deutlich erdigere Gefilde, nur um sich am Ende dann doch noch in ein paar dahingetupfte Klavier-Phrasen und gehauchte Hoffnungsschimmer aufzulösen.

"Igor" verabschiedet herkömmliche Songstrukturen und ergibt, ohne der Prätention eines verkopften Konzeptalbums zu folgen, als Ganzes mehr als die Summe seiner Teile. Es ist detailverliebt, durchkuratiert, perfektionistisch. Dissonanter Lärm und zuckersüße Melodien geben sich genauso die Klinke in die Hand wie Afrofunk-Schnipsel und japanische City-Pop-Samples.

Und während sich die Gästeliste wie ein Weihnachtswunschzettel liest - Solange, Kanye West, Pharrell Williams, Lil Uzi Vert - bleiben sie doch alle nur Statisten in der Geschichte von Igor, dem Liebenden, die das Album erzählt. Der lässt sich nämlich mit einem Typen ein, der auch noch mit einem anderen Mädchen was am Laufen hat, sich aber nicht zu Igor bekennt und ihn in der Luft hängen lässt. Von anfänglicher Verliebtheit und Selbstaufgabe, über verzweifelte Ungewissheit bis zur finalen Ernüchterung und dem trotzigen Abschied, skizziert das Album die Stadien einer Liebe.

Dabei gibt Okonma den passiv-aggressiven Igor. Den verknallten Igor. Den besitzergreifenden Igor. Den sich selbst erniedrigenden Igor. Und um von allen diesen Igors zu künden, verzichtet er meist auf seinen rauen Sprech-Bariton, der immer klang, als sei er mindestens dreimal durch den Stimmbruch gegangen. Er schreit und flüstert auf "Igor", er raunt und säuselt, er croont und summt. Und ja, gelegentlich rappt er auch. Manchmal wird seine Stimme wie auf Helium ein paar Oktaven in die Höhe gejagt, dann wieder klingt sie so blechern verweht, als wäre sie durch ein Dosentelefon aufgenommen. Die eigentliche Stärke seiner Stimme ist so gebrochen wie der Charakter, den sie spricht.

Und so kontert Tyler, the Creator mal wieder alle an ihn gestellten Erwartungen aus und wird jener ikonischen Zeile gerecht, mit der er seinen ersten großen Hit "Yonkers" begann: "I'm a fucking walking paradox — no, I'm not".

© SZ vom 03.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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