Valerie June sieht ziemlich jung aus, ihr fein geschnittenes, ja fast puppenhaftes Gesicht war kürzlich sogar in der amerikanischen Vogue zu sehen. Andererseits wird ihr vorgeworfen, dass sie tief aus der Vergangenheit schöpfe, aus dem frühen Soul, dem Vorkriegs-Blues, den Folkweisen der großen Depression oder den Songs der Baumwoll-Sklaven.
Valerie Junes Gesang hört man all das wirklich an. Jahrhundertealte Mississippi-Melodien und Appalachen-Gesänge stehen bei ihr plötzlich neben dem globalisierten zeitgenössischen R'n'B. Der Londoner Standard schrieb: "Sie sieht aus wie ein Supermodel und singt wie eine 100-jährige Blues-Oma." Tatsächlich reichen zwei Takte aus ihrem neuen Album "The Order Of Time" (Caroline), und man ist ihrem herben nasalen Flehen verfallen. 15 Jahre arbeitete die junge Frau als Haushaltshilfe, Geschirrwäscherin und Seifenmacherin, nebenbei lernte sie Ukulele und Banjo, nach Auftritten in Pubs und Künstlercafés verkaufte sie selbstproduzierte CDs aus dem Kofferraum heraus.
Ja, sie habe sich lange für ihre Stimme geschämt, sagt Valerie June lachend und wirft ihr Schlangennest an Dreadlocks in den Nacken. Kokett wirkt das allerdings nicht, eher stolz. "Wenn ich könnte", sagt sie zwischen zwei Schluck Ingwer-Tee im Nebenraum einer Berliner Bar, "würde ich so singen wie Robert Johnson oder Maybelle Carter. Aber meine Unzulänglichkeiten kamen mir zum Glück in die Quere, sie zwangen mich, ich selbst zu bleiben." Ihre einzige Ausbildung sei das Singen in der örtlichen Kirche gewesen: "Es gab keinen Chor. Fünfhundert Stimmen sangen gemeinsam, und jeder brachte sich so ein, wie er eben wollte." Im Radio hörte sie vor allem Country. Als sie vor Kurzem zusammen mit Nile Rodgers auf der Bühne stehen sollte, musste sie erst ihre Bandmitglieder fragen, welche Songs der Chic-Gründer und Funkpop-König eigentlich geschrieben hatte.
Valerie June schätzt die Worksongs, also jene afrikanisch inspirierten Arbeitsgesänge von Feldarbeitern und Gefängnisinsassen, in denen ein Vorsänger stets von einem gleichförmigen Chor beantwortet wurde. Die Wiederholung sollte die Arbeit trancehaft erleichtern und so einem unerträglichen Leben etwas Würde abtrotzen. Moby hat solche Gesänge für seine Electro-Tracks gesampelt. Ansonsten machte der Pop bisher einen Bogen darum. Was aber bringt ein junge Frau aus Tennessee dazu, eine Welt zum Leben zu erwecken, die seit den Aufnahmen des großen Musikethnografen Alan Lomax und seit George Mitchells "Anthology of American Folk Music" vor allem in dicken CD-Boxen schlummerte? Und warum klingt es so frisch?
Nach zwei Takten ist man dem herben nasalen Flehen dieser Stimme schon verfallen
Aufgewachsen ist Valerie June als Tochter eines Abriss-Unternehmers in einer Kleinstadt westlich von Nashville. Um Geld zu verdienen, hilft sie ihrem Vater. Die Musik bleibt zunächst ein Zubrot. Es folgt die Zeit als Straßenmusikerin, später zieht sie nach Brooklyn. Dann wird sie von einem gemeinsamen Bekannten Dan Auerbach vorgestellt, dem Sänger und Gitarristen der gefeierten Neo-Blues-Band Black Keys: "Bei Dan absolvierte ich meine Lehrzeit", sagt sie, "aber es war ein Kampf, ich wollte mir nicht hineinreden lassen." Ihr viertes Album "Pushin' Against A Stone" verschafft ihr 2013 endlich größere Aufmerksamkeit. Einerseits trägt das Album - Gitarren-Geschepper, harte Drums und ein Schuss melancholischer Country - die Handschrift des Roots-Music-Alchemisten Dan Auerbach. Andererseits hat der knarzig- näselnde, scheinbar aus einem Feldgottesdienst einer schwarzen Dorfgemeinde herübergewehte Gesang etwas, das weißen Bluesrock-Adepten wie den Black Keys immer fehlen wird. Valerie Junes Stimme trifft den Hörer wie ein Messer - und schneidet tief unter die Haut. Die Rolling Stones laden sie auf die Bühne ein, Michelle Obama bittet um einen Auftritt im Weißen Haus, und die britischen Trip-Hop-Pioniere Massive Attack bitten um einen Song. Der bleibt dann zwar liegen, doch June hat aus der Melodie eine großartige Single gemacht und einen der Höhepunkte ihres neuen Albums. In die rauen Blues-Akkorde des Vorgängeralbums mischen sich nun sehr viel weichere und komplexere Jazz- und Ambient-Akzente. Die Sängerin hat zu ihrer Erzählstimme gefunden, nimmt uns mit in ihre Welt, in der das Landmädchen aus Tennessee auf die Geheimnisse des Cosmic Jazz stößt, sie im "reinigenden Regen" durch astrale Ebenen tanzt, "gleichzeitig blind und voller Hellsicht". Ja, es klingt nun, als ob Country-Urmutter Maybelle Carter auf R'n'B-Chef-Esoterikerin Erykah Badu trifft. Dass das so gut funktioniert, hat auch mit Valerie Junes Kompositionstechnik zu tun. Sie schreibe keine Songs, sagt sie, sie empfange sie: "Einige Songs kommen mir im Traum. Andere schleichen sich langsam in mein inneres Ohr. 'Astral Planes' etwa habe ich zuerst beim Kochen gehört." Mit ihren Begleitmusikern und Produzent Matt Marinelli hat sie "Astral Plane" dann mit warmen Keyboards, Bläsern und einer jaulenden Pedal Steel arrangiert.
Songs wie "Slip Slide On By" oder "Love You Once Made" erinnern mit ihren markanten Bläserpassagen an klassische Soulballaden und vermeiden doch deren Erlösungstheatralik. Valerie June spielt nicht mit Effekten. Und sie zitiert neben Appalachen-Bluegrass und dem klassischen Trance Blues der Mississippi Hills gern Querdenker wie den Graffiti-Künstler und Warhol-Schützling Jean-Michel Basquiat oder David Bowie. Und dann bringt sie all das in einem rumpelnden Rocker wie "Shakedown" zusammen: Gitarren-Riffs, Handclaps und eine Orgel kochen da einen Rockabilly-Song auf, der sich immer mehr zum Drone steigert, mehr Rauschen als Rhythmus, eine dunkle Soundwolke - die andere Seite des leisen Abschiednehmens, das das Album sonst prägt.
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Warum aber singt sie gerade jetzt, in dem Moment, in dem sie berühmt wird, sich Fernsehsender und Zeitungen um sie reißen, so besessen von Trennung und Verlust? Weil sie nichts mehr erschüttert habe als der kürzliche Tod ihres Vaters. Es sei kein schlimmer Abschied gewesen. Im Gegenteil. Die ganze Familie habe sich ums Sterbebett versammelt und gesungen. Aber danach habe ich die Klagen der alten Blues- und Folksongs noch einmal besser verstanden." Im Refrain von "Shakedown" hört man neben ihren Geschwistern übrigens auch ihren Vater singen.