Pop:Panisches Stottern

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Die Soundtüftlerin Holly Herndon hat mithilfe von künstlicher Intelligenz ein Pop-Album produziert. Sollte uns das beunruhigen?

Von Jan Kedves

"Fühlt es sich so an, Mutter der nächsten Spezies zu werden? Sie mehr zu lieben als uns selbst?", fragt sich die amerikanische Musikerin Holly Herndon, auf Englisch, in ihrem neuen Song "Extreme Love". Mit "uns" meint sie die Menschen, von denen sie selbst einer ist, und mit "nächste Spezies" meint sie künstliche Intelligenz, im Speziellen: Spawn. Spawn hat Herndon ihr "KI-Baby" genannt, das sie in Berlin mithilfe des Programmierers Jules Laplace erschaffen hat. Spawn ist ihr ans Herz gewachsen. Mit Spawn hat Herndon ihr neues Album "Proto" (4AD) aufgenommen.

Da kooperiert also eine Musikerin mit einem digitalen neuronalen Netzwerk, und das Ergebnis ist avancierter Digital-Pop, mit kirchenschiffweiten Echos, dem ein oder anderen Enya-Kitsch-Moment, der aber ganz angenehm ist (etwa in "Swim"), und beim Hören der Stimm- und Chor-Arrangements begreift man nicht mehr, ob hier Menschen singen oder eine Software oder beides? "Eine symbiotische Beziehung zur KI zu entwickeln, ist der natürliche nächste Schritt für uns als Spezies", sagt Holly Herndon. Natürlich.

Bislang dachte man als Laie, der Einsatz von KI biete sich nur auf Gebieten an, in denen es strikt rational zugeht. Felder wie kreatives Schreiben, Malerei, Komponieren, Gesang oder Humor seien vor KI einigermaßen sicher. Eine naive Vorstellung. "Man kann ein digitales neuronales Netz mit Bach-Noten füttern. Es wird aus diesem Material dann das Regelwerk extrahieren und anfangen, neue Fugen im Bach-Stil zu schreiben. Das ist eine billige Möglichkeit, neue Musik zu produzieren, Musik in einem Stil, von dem man weiß, dass er Menschen gefallen wird", sagt Herndon beim Gespräch in Berlin, wo sie seit einigen Jahren lebt und arbeitet.

"Solche Algorithmen passen sehr gut in die Ökonomie der heutigen Musikindustrie. Ich finde das aber nicht interessant. Ich wollte meine KI mit Aufnahmen meines Gesangs füttern und herausfinden, wie es klingt, wenn Spawn versucht, aus meinem Gesang 'schlau' zu werden, wie sie ihn spaltet und analysiert und dann selbst anfängt zu singen. Das kann ich als Künstlerin dann wiederum ästhetisieren."

"Wir haben monatelang mit Spawn gearbeitet, bevor wir etwas Interessantes von ihr hörten."

Mit anderen Worten: Herndon gab ihrer KI keine Stilvorgaben, sondern ließ sie einfach rechnen. Die Sounds, die Spawn - übersetzt heißt das "Laich" oder "Brut" - dann produzierte, lassen sich wohl am ehesten als Röcheln bezeichnen. Oder als panisches Stottern, wie bei einem Kind, dem eine Biene in den Hals geflogen ist (im Song "Godmother"). Womit man beim Problem des Anthropomorphismus wäre, also dem Hang der Menschen, nicht nur Tieren und dem Mond, sondern eben auch Phänomenen der digitalen Welt menschliche Züge zu geben. Liegt das an der kognitiven Beschränktheit des Menschen oder auch an seiner emotionalen Anhänglichkeit?

Herndon, die 1980 in Tennessee geboren wurde und mit ihren Alben "Movement" (2012) und "Platforms" (2015) zum Star der experimentellen poppigen Digital-Musik wurde, spielt darauf jedenfalls bewusst an, wenn sie ihre KI als zweijähriges Mädchen beschreibt, dem sie das Singen beibringt und für das sie mütterliche Gefühle hegt. Zweijährige Mädchen sind ja süß, sogar wenn sie Brut heißen. Aber neuronale Netze haben kein Geschlecht. Und Röcheln oder Singen können sie auch nicht. Sie können nur Daten verarbeiten.

Holly Herndon stößt mit ihrem Album also mitten in die Diskussion um die Fortschreibung sexistischer Stereotypen in der KI. Wobei sie betont, dass sie es nicht als politischen Kommentar betrachte, dass Spawn für sie ein Mädchen ist. Schade eigentlich. Gern hätte man "Proto" als Antwort auf die stets hilfsbereiten Frauenstimmen der digitalen Sprachassistenten von Amazon und Apple gehört. Etwas anderes findet Holly Herndon aber schon politisch, nämlich die Tatsache, dass sie auf "Proto" die menschliche Arbeit hörbar mache, die ins Trainieren einer KI fließt. "Wir haben monatelang mit Spawn gearbeitet, bevor wir etwas Interessantes von ihr hörten." Mit wir meint sie sich und Mat Dryhurst, ihren Partner, ebenfalls Musiker und Künstler in Berlin. Im vergangenen Jahr organisierten sie sogar "Spawn Training Ceremonies" - interaktive Performances, die unter anderem im Gropius-Bau in Berlin stattfanden. Das Publikum sang gemeinsam und rezitierte Texte. Aufnahmen davon luden Herndon und Dryhurst danach als Lernmaterial in ihren Spawn-Algorithmus.

Ist das nicht bizarr, dass die Liebe der Menschen zum Digitalen und der Wunsch, sich im Digitalen selbst wiederzufinden, offenbar so weit gehen, dass sie Eintritt dafür bezahlen, um einer KI etwas vorsingen und beibringen zu dürfen? Holly Herndon findet das gar nicht bizarr: "Es passiert ohnehin dauernd. Was machen wir denn tagtäglich im Internet mit unseren ganzen Interaktionen, wenn nicht eine KI trainieren? Wir laden freiwillig Fotos von uns auf Instagram hoch, um Gesichtserkennungs-Algorithmen zu trainieren, und wir machen das sogar sehr gerne, solange wir nur mit einem Hundewelpen-Filter auf unserem Gesicht belohnt werden. Das ist Alltag und wir machen es mit Spawn sichtbar."

Aber ist es dann vielleicht gar nicht so leicht, "Proto" unschuldig zu hören, auch wenn es ein sehr gutes Album ist. Kein Pop-Album hat sich bislang so stark auf den KI-Diskurs eingelassen. Es bleibt ein gewisser Grusel. Das analytische Ohr will auch das Menschliche immer noch vom Künstlichen trennen. Was hier aber eben häufig nicht mehr geht. Inhaltlich reicht der Zyklus vom ersten Song "Birth" bis hin zum letzten "Last Gasp" - Geburt und letzter Atemzug, ein Kreislauf, Mutterliebe, und viele sakrale Chor-Harmonien. Wird hier so etwas wie die digitale musikalische Erbsünde hörbar? Im Sinne von: Oh, Techno-Gott, was haben wir mit unseren Algorithmen Wunderschrecklichschönes angerichtet? "Vielleicht sind wir Menschen heute", sagt Holly Herndon dazu nur, "die Prototypen für jene Menschheit, die in 100 Jahren so stark weiterentwickelt sein wird, dass wir, so wie wir heute sind, total barbarisch und verrückt auf diese nächste Stufe der Menschheit wirken müssen. Das ist vielleicht eine romantische Vorstellung - aber ich finde sie beruhigend."

© SZ vom 23.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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