Die Welt ist gerade am Durchdrehen. Also müssen wir auch alle durchdrehen! Nicht im Sinne von Nordkorea bombardieren, den Spaniern den Bau einer Mauer durch verschiedene souveräne nordafrikanische Staaten empfehlen oder von Bettlern verlangen, dass sie auf Almosen noch Steuern zahlen sollen. Sondern: Wir müssen im Club durchdrehen, denn auf der Tanzfläche sind wir vor dem Wahnsinn da draußen noch am sichersten! Lass uns ganz viel Cola trinken die ganze Nacht und zu den Disco-Beats nicht mehr vom Zuckerrausch runterkommen!
So jedenfalls lauten, etwas paraphrasiert, die Einladungen der ersten beiden Songs auf dem neuen Chic-Album. Sie heißen "Till the World Falls" und "Boogie All Night", und in diesen Stücken wird noch einmal - diesmal nur mit prallerem, dem dritten Jahrtausend angepasstem Digitalstudio-Rumms - das große Versprechen aus den Siebzigerjahren beschworen. Dass die Disco nämlich jener geheimnisvoll glamouröse Ort sein kann, an dem sich die verschiedensten Menschen im Spaß und Exzess vereinen und nachts ein bisschen jene wunderbar friedliche, vom Endorphin berauschte Welt vorleben, wie sie doch draußen eigentlich auch immer sein sollte.
Der Mann, der dieses Versprechen wieder einlösen will, heißt Nile Rodgers, er ist jetzt 66 Jahre alt, lächelt immer noch wie ein Weltmeister und trägt immer noch die längsten Dreadlocks im Popgeschäft. Er hat zweimal den Krebs besiegt und 1996 seinen langjährigen Studiopartner Bernard Edwards an eine Lungenentzündung verloren. Sein Aufstieg war komplett unwahrscheinlich - vom Kind aus der Bronx, dessen Eltern eher Junkies und Beatniks waren als Erziehungsberechtige, zum Produzent von "Let's Dance" (David Bowie), "Like A Virgin" (Madonna) und "Upside Down" (Diana Ross). Er übertrieb es mit dem Koks, brach im Haus von Madonna in Miami Beach zusammen und wurde von Keith Richards zum Entzug überredet. Ein Pop-Maskottchen, ein Genie des Grooves, eine Legende! Und da haben wir noch gar nicht erwähnt, dass er mit Timothy Leary LSD nahm, eine Weile auch mit Jimi Hendrix spielte und als Teenager bei den Black Panthers mitmarschierte.
Auf seinem neuen Chic-Album "It's About Time" (Virgin) - es folgt auf "Chic-ism" von 1992 - ist es nun an der Zeit, vor allem an den Disco-Teil dieser Geschichte zu erinnern. Dabei werden natürlich die Doppel-Klatscher am Ende jedes Taktes nicht vergessen, die an allen Orten der Welt immer sofort gute Laune machen und mitgeklatscht werden: patsch-patsch! Die Abwesenheit von Bernard Edwards, dem Bass-Virtuosen, der mit seiner funky "Chucking"-Technik die Saiten nicht einfach zupfte, sondern mit dem Fingernagel auch pickte, so wie man es bei der E-Gitarre mit dem Plektrum macht, fällt kaum auf.
Das heißt: Disco im Jahr 2018 geht durchaus noch. Das Songwriting ist völlig überzuckert, man bekommt erst mal einen Schock. Aber bei den alten Chic-Hits war das im Grunde ja auch so, nur hat man sich eben an sie gewöhnt und die Melodien nie mehr aus dem Kopf bekommen. Sicher könnte man bedauern, dass Rodgers jenen beiden Sängerinnen, die er auf Tour mit der Chic-Band immer dabei hat - Kimberly Davis und Folami -, nicht zutraut, die Songs des Albums zu tragen. Deswegen herrscht Gastbeitrags-Wahn. Die Hip-Hop-Kultur lässt grüßen. Lady Gaga, Elton John, Vic Mensa, Emeli Sandé, Craig David, sie alle singen ihre Gaststrophen. Dem Eindruck der Geschlossenheit ist das nicht unbedingt förderlich.
Andererseits: Es könnte ja auch das letzte Chic-Album sein, und warum nein sagen, wenn solche Leute sich doch anbieten? Noch dazu lässt sich so auch, über Bande, daran erinnern, dass Chic in der Geburtsstunde der Hip-Hop-Kultur sehr wichtig waren, in der wiederum berühmte Gäste obligatorisch sind. 1979 basierte der erste auf Vinyl gepresste Hip-Hop-Riesenhit, "Rappers Delight" von der Sugarhill Gang, auf dem Chic-Hit "Good Times".
Disco-Puristen und andere Nörgler werden sich sicher über die Politur des Sounds aufregen. Ja, hätten Daft Punk das Album produziert, hätte es womöglich gegenwärtiger und gewagter geklungen. Nile Rodgers kennt die doch! Er hat doch 2013 mit ihnen "Get Lucky" aufgenommen und den Hit im Sechzehntel-Stakkato mit seiner legendären Zickezacke-Funk-Gitarre erst so toll gemacht. Warum hat er sie nicht angerufen? Aber bitte, Chic klangen auch 1978, als sie sich mit "Ahhhhh, freak out!" den ewigen Schlachtruf der Partynacht ausdachten, nicht wirklich gewagt. Sie hatten vielmehr aus vielen vorangegangenen Disco-Hits ihre perfekte Tanzformel extrahiert, ideal fürs Studio 54, das musikalisch ja auch nie ein wegweisender Underground-Club war. Insofern kann man sagen: Nein, Rodgers' Versuch sich vorzustellen, wie ein Studio 54 im Jahr 2018 klingen könnte, scheitert nicht.
Und die Puristen versöhnt er auch: Wie jedes Chic-Album seit 1977 enthält "It's About Time" ein Instrumental, und dieses hier, "State of Mine", ist himmlisch. Opulent, orchestral, entspannt, träumerisch! Rodgers schlägt die ganz große Brücke vom Motown-Sound, aus dessen Tradition heraus Disco erwuchs, ins Heute. Das Stück macht mit seinem Düdel-di-dü extrem gute Laune und zieht - bevor es zu sehr in "Love Boat"-Kitsch abdriftet - in kurzen Pausen noch eine kühle, synthetisch blubbernde Techno-Bassline ein. Damit das Ganze auch ein bisschen futuristisch klingt. Alle bereit für den Nachtflug zu den Sternen? Wenn Eskapismus und Durchdrehen, dann bitte so.