Was macht man so am Nachmittag, bevor man abends eine Stunde und 25 Minuten lang vor zehntausend durchdrehenden Fans der wichtigste, wortgewaltigste, musikalisch versierteste und modisch bestausgestattete zeitgenössische Rapper der Welt ist? Gurgelt man ein bisschen Ingwertee? Sortiert man die Troddeln an seinem spektakulären Designermantel? Geht man noch kurz im eigenen Pop-up-Shop vorbei und schaut, ob sich die Merchandise-Shirts mit Sprüchen wie "Pray For Me" gut verkaufen?
Man hätte das alles Kendrick Lamar gerne gefragt, während er gerade in Europa auf Tour ist. Aber der Rapper aus Compton, Los Angeles, gibt derzeit keine Interviews. Was bestimmt schlau ist, denn der 30-Jährige hat gerade einen Moment, wie man so sagt, und er weiß, dass popkulturelle Momente eine noch stärkere Wirkung entfalten, wenn die Person im Zentrum nicht so viel redet. Außer auf der Bühne. In diesem Fall: Frankfurt, Festsaal, Donnerstagabend.
Da steht also Kendrick Lamar allein zwischen riesigen Video-Leinwänden, und all das Gerede vom Moment rechtfertigt sich von allein, weil gar nicht zu ignorieren ist, dass die hier versammelten Zehntausend sich absolut sicher sind, genau dem richtigen Rapper zur genau richtigen Zeit zuzujubeln. Sein Album "Damn.", auf dem er den erdig-jazzigen Sound des Vorgängers "To Pimp A Butterfly" (2015) gegen nicht-käsigen Pop und harten Trap-Sound eintauschte, ist gerade bei den Grammys als bestes Rap-Album des Jahres ausgezeichnet worden. Der Vorgänger bekam den Grammy damals nicht, landete aber in der offiziellen Spotify-Playlist des damaligen Präsidenten Barack Obama.
Er levitiert in der Mitte des glitzernden, blinkenen Kubus: ein rappender Yoda!
Außerdem ist das Soundtrack-Album erschienen, das Lamar für die Marvel-Verfilmung "Black Panther" produziert hat: afrofuturistische und zugleich afrotraditionalistische Pop- und Rap-Musik, mit der er die Saga des ersten schwarzen Comic-Superhelden und seiner mythischen Heimat Wakanda in Zentralafrika nicht nur untermalt, sondern weiterschreibt.
In Wakanda gibt es diesen mythischen extraterrestrischen Rohstoff Vibranium, von dem Lamar einiges abbekommen zu haben scheint. Selbst aus Kooperationen mit U2 und aus Werbedeals mit eigentlich eher abgelatschten Turnschuhmarken kommt er völlig unbeschadet heraus. Mit vollem Momentum.
Man sieht sich diesen Mann also live an und ist dann tatsächlich überwältigt davon, wie er mit simplen Tricks sehr spektakuläre Effekte erzeugt. Zum Beispiel hat er einen gleich dreifach ausfahrbaren Lichterketten-Kubus-Käfig mitgebracht, in dem er sitzt wie ein betroddeltes Raubtier. Erst ist dieser Kubus nur eine Plattform mitten in der Menge. Dann fährt aus dem Boden, außen, ein Zaun aus bunt blinkenden Lichterketten empor, was ganz großartig aussieht, gerade weil Lichterketten sonst oft etwas Billiges haben, hier aber gar nicht. Während die Menge schon ausrastet, steigt in der Mitte der Plattform noch eine zweite Ebene auf, sodass der darauf kauernde Lamar jetzt in der Mitte des glitzernden blinkenden Kubus quasi levitiert, wie ein rappender Yoda.
"Blood" heißt der Track, der dazu läuft. Darin will Lamar einer blinden Frau helfen, die auf der Straße herumirrt, und sie erschießt ihn. Die Interpretations-Experten von der meist recht verlässlichen Pop-Lyrik-Website Genius.com haben das als Referenz auf das 5. Buch Mose gedeutet, im Speziellen: auf die schicksalhafte Entscheidung, Gott gegenüber gehorsam zu sein oder nicht. Dazu passt, dass die Plattform - Peng! Lamar ist jetzt "tot" - noch weiter emporfährt, durch die Decke des Kubus-Käfigs hindurch, bis Lamar ganz oben drauf steht. Himmelfahrt vollendet.
Rihanna vom Band? Niemand erwartet bei ihm einen Fake. Er ist das Gegenteil von Fake
Der Star, der dort jetzt als rappender Engel steht, lässt sich durch die Kunstnebelschwaden hindurch leicht ausmachen. Der Supermantel des Londoner Designers Craig Green, der Elemente des Boxmantels und des Bademantels in sich vereint und etwas sehr Archaisches und zugleich Science-Fiction-Mäßiges hat (Craig Green hat auch schon Kostüme für "Alien: Covenant" entworfen), hebt sich ausreichend vom Dunst ab. Aber will man Kendrick Lamar mit dem Smartphone filmen, was in der Festhalle natürlich alle wollen, dann hat man auf dem Bildschirm nur gleißendes weißes Wabern. Selbst die Verunmöglichung der digitalen Reproduktion der Show ist dieser Show anscheinend mit einprogrammiert. Wahnsinn.
Und das ist nur ein Beispiel für den maximalen Minimalismus, mit dem Lamar in den nächsten Wochen auch nach Köln und Berlin fahren wird. Die Show ist ganz allein auf ihn ausgerichtet, ohne Backing-Band, ohne die üblichen Tanzgruppen-Choreografien. Lamar, Hydraulik, Pyrotechnik, Videoprojektionen, ein One-Man-Ding. Das heißt auch: Zu "Loyalty", dem Duett mit Rihanna aus dem "Damn"-Album, wird die körperlich abwesende Gesangspartnerin nicht per Video oder Hologramm hinzugeschummelt. Das würde man in einer normalen Pop-Show machen. Lamar hat so etwas nicht nötig. Rihanna kommt als Stimme von der Festplatte, fertig. Niemand erwartet bei Kendrick Lamar einen Fake. Lamar ist das Gegenteil von Fake.
Und Lamar ist etwas Neues, auch wenn man dafür ein wenig ausholen muss. Hip-Hop, das waren ja in historischer Abfolge: die Animations-Party-Rapper der frühen Tage in der Bronx, die militärisch formierten Polit-Rapper der Achtzigerjahre, die Gangsta-Rapper, die Consciousness-Rapper, die prahlerischen Bling-Rapper. Sie alle waren immer auch Typen. Verallgemeinerungen. Lamar hat diese Rap-Strömungen in sich aufgenommen, aber er steht dort nicht als Typ, sondern als einzelner, menschgewordener Sozialkommentar. Seine prägende Kindheitserfahrung waren die Aufstände nach der Misshandlung von Rodney King 1992 in Los Angeles, er gehört einer schwarzen Generation an, die mit medial vermittelten Bildern der eigenen Diskriminierung aufgewachsen ist. Wenn er sich im Track "DNA", mit dem er die Show in Frankfurt eröffnet, fragt, inwiefern Gewalterfahrungen in die schwarze DNA eincodiert sind, dann kann man das auch als Ringen zwischen Determinismus und Befreiungsschlag verstehen.
Einige dieser Aspekte spiegeln sich darin, dass während der Show Schnipsel aus Nachrichtensendungen und Bilder von Polizeigewalt über die Leinwände laufen. Wie das so ist, wenn sich solche Bilder während einer Pop-Show mit donnernden Bässen, Hit-Refrains und dem kollektiven Adrenalinrausch kurzschließen: Man wird mitgerissen und hat, wie man so sagt, eine gute Zeit. Dass es auch um das Leben und Überleben schwarzer Menschen in den USA geht, vergisst man keine Sekunde. Auch, weil auffällt, dass Lamar selbst im Angesicht der größten Euphorie vor der Bühne nie lacht. Nur ein bisschen zuviel Lockerheit seinerseits, und die genau austarierte Balance aus Härte und Entertainment könnte ins zu leicht Verdauliche umschlagen.
Wenn Lamar zwischendurch wissen will, wie es den Zehntausend in diesem "Motherfucker", der heute Abend die Festhalle ist, geht, dann fragt er nicht: "Habt ihr Spaß?" Sondern: "Lebt ihr noch?" Und dann wird es ihm für einen Moment zu ruhig. "Seid ihr tot?"