Jean-Michel Jarres neuem Album "Equinoxe Infinity" wohnt ein so subtiles, aus der Zeit gefallenes Paradoxon inne, dass es seine Zeit braucht, bis man es als Hörer nach wiederholtem Hören vielleicht irgendwann bemerkt. Denn alles an Jean-Michel Jarres als Zukunftsalbum bezeichneten "Equinoxe Infinity" wirkt zunächst gestrig: das Cover mit den bedeutungsschwangeren Beobachter-Skulpturen, die Synthesizer-Sounds aus der langen Geschichte der modularen Synthesis, das Suitenhafte der zehn Sätze, schließlich die Querverweise auf das vor 40 Jahren erschienene Album "Equinoxe".
Mit diesem am 16. November 1978 erschienenen Konzeptalbum hatte Jean-Michel Jarre seinerzeit eine Musik vorausahnen wollen, wie sie wohl im Jahr 2018 gespielt würde, getaktet nach dem Tagesablauf des modernen Menschen mit seinen Ruhe- und Effizienzphasen. Zur Veröffentlichung von "Equinoxe" sind die Kritiken seinerzeit gemischt ausgefallen. Knappe zwei Jahre nach Jean-Michel Jarres Überraschungs-Smash-Hit "Oxygène" von 1976, dem weltweit ersten populären Album mit instrumentaler Synthesizermusik, wirkte "Equinoxe" auf viele Hörer wie der zweite Aufguss einer bereits bekannten Formel.
Ein Wiederhören bestätigt diesen Eindruck nicht. Das Album ist überraschend gut gealtert. Jarre selbst ließ sich von Kritiken ohnehin nie beirren. Als ehrgeiziger französischer Popstar erfand er das Konzert als Massenereignis mit Lasershows vor spektakulären Kulissen wie den Pyramiden von Gizeh, den Londoner Docklands oder der Pariser Bastille.
Das Album ist wie eine Verschnaufpause, bevor KI den kreativen Prozess verändert
Jean-Michel Jarre ist heute 70 Jahre alt und sieht aus wie 50. Anlässlich dieser runden Jahreszahl veröffentlichte Sony im Oktober nicht nur eine aufwendige Greatest-Hits-Box mit dem Titel "Planet Jarre", die Chefetage schenkte ihm zum runden Geburtstag die Taufe eines Planeten, der zwar 350 Lichtjahre von der Erde entfernt ist, aber seit einigen Wochen auf den Namen Jarre hört.
Auf "Equinoxe Infinity", und darin liegt das eingangs erwähnte Paradox, klingt seine Musik gleichzeitig retrofuturistisch wie versöhnlich, da Jarre auf eine geradezu provozierende Art am angeblich überkommenen Konzept des Albums festhält. In der Musikindustrie redet man heute von der neuen Zeit im Unterschied zur alten Zeit. Die neue Zeit, das ist die körperlose Welt des Streamings, in der die Menschen mit viel Freizeit — also vor allem Jugendliche und Arbeitslose — mit ihrem Streaming-Verhalten bestimmen, was erfolgreich ist. In der alten Zeit bestimmte noch das gute alte Geld, also die tatsächlich verkaufte Anzahl an Tonträgern den Erfolg.
Um in den Streaming-Diensten höher platziert zu werden, predigen die Verkünder der neuen Lehre seither, dass man nicht mehr in Alben, sondern in einem kontinuierlichen, nicht abreißenden Fluss von Singles denken und veröffentlichen muss, am besten mit möglichst vielen Features, das ist Neudeutsch für Kollaborationen.
Jean-Michel Jarre hat in den vergangenen drei Jahren genau dies getan, er kollaborierte auf seinen beiden Doppelalben "Electronica 1" und "Electronica 2" mit dem halben Pantheon der Elektronik- und Technowelt, veröffentlichte Single um Single, Track um Track mit so unterschiedlichen Features wie Massive Attack, Gesaffelstein, Little Boots, Tangerine Dream, Primal Screa m, Peaches — alles im Dienste der digitalen Reichweitenoptimierung.
Man muss all dies wissen, um zu begreifen, warum "Equinoxe Infinity" heute so provozierend rückwärtsgewandt klingt: Diese Veröffentlichung verweigert sich offensiv der Logik des Streams und somit der neuen Zeit, es funktioniert als Album mit einem expliziten Spannungsbogen, und ganz besonders funktioniert es in seinem Kontrastreichtum zwischen einer ruhigen A-Seite und einer aufgedrehteren B-Seite (wenn man das Album in seiner Vinylversion hört). Dass dieses Werk eines Auteurs die Musik der Zukunft sein soll, ist natürlich ein Treppenwitz. Ein guter allerdings, denn lange nicht mehr hörte man in der elektronischen Musik so hypnotisch-verzaubernde, ja, klassische Melodien wie im titelstiftenden "Movement #10".
Das Album ist wie eine Verschnaufpause vor der Antwort auf die über allem latent schwebende Frage nach der Musik, die uns eine auf Algorithmen basierte künstliche Intelligenz in der Zukunft bereithalten wird. Jean-Michel Jarre sagt: "Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass wir uns in weniger als zehn Jahren an Inhalte gewöhnt haben werden, deren Urheber die künstliche Intelligenz ist — Drehbücher zu Spielfilmen, ja die Filme selbst, natürlich die Malerei, die Literatur und nicht zuletzt die Musik. Ich habe vor dieser nicht mehr aufhaltbaren Entwicklung keine Angst. Aber ich stelle mir die auf der Hand liegenden Fragen: Was bedeutet dies für den kreativen Prozess? Wie kann sich der Künstler als Schöpfer gegen diesen Wandel positionieren? Oder werden wir weniger Künstler in der Zukunft haben als gegenwärtig?"
Vielleicht werden wir "Equinoxe Infinity" eines fernen (oder nahen) Tages als den letzten Seufzer der alten Zeit wahrnehmen, der sich seines eigenen Ausatmens völlig bewusst ist? Jarre: "Ich bin immer ein Freund der Moderne und des Neuen gewesen, schon damals, als ich 1969 in Paris der von Pierre Schaeffer und Pierre Henry elf Jahre zuvor gegründeten Groupe de Recherches Musicales beigetreten bin. Maschinen haben wir immer als Verbündete gesehen, als Möglichkeiten. Problematisch wird es in dem Moment, wenn die künstliche Intelligenz eines Tages beschließen würde, dass der Mensch überflüssig geworden sei. Dann nämlich ist der Zug abgefahren."
"Equinoxe Infinity" ist mit zwei verschiedenen Schallplattenhüllen ausgeliefert worden — abermals ein Anachronismus? Die utopische Version zeigt die ikonische Figur des Beobachters vom Cover von "Equinoxe" als verwitterte Steinruine inmitten einer friedvollen Heidelandschaft, als hätte eine versunkene Hochzivilisation nur dieses Zeugnis ihrer einstigen Existenz übrig gelassen.
Das zweite Cover zeigt eine orangenfarbene, an die dystopische Stimmung im zweiten Teil von "Blade Runner" erinnernde Strahlenapokalypse, in der die Beobachter-Steinfiguren wie Überbleibsel von uns in einer Welt ohne Menschen wirken. Das ist ein gestalterischer Ansatz, der so veraltet, paradox und belehrend ist, dass er schon wieder richtig gut ist. Werden wir also den Staub, der sich derzeit auf die Bücher und Schallplatten legte, in einer womöglich gar nicht so fernen, staublosen Zukunft des Digitalen vermissen?