Pop:Betörend ätzen

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Ein echter Pop-Geheimtipp: Die Chicagoer Songwriterin Haley Fohr hat als "Jackie Lynn" ein neues Album aufgenommen, das eigentlich nur einen einzigen Fehler hat: Seine acht Songs sind nach gerade einmal 22 Minuten schon vorbei.

Von Josef Wirnshofer

Die Musikerin Jackie Lynn ist ein Phantom. Eine Schattengestalt, die ihr Gesicht hinter einer Maske verbirgt. Man weiß nur, dass sie in Franklin, Tennessee zur Welt kam, zwanzig Jahre später mit dem Greyhound-Bus nach Chicago abgehauen ist und dort einen gewissen Tom Strong kennengelernt hat. Zusammen vertickten sie Kokain und schmissen die wildesten Partys der Stadt. Als die Polizei ihr Apartment aufspürt, sind die beiden schon verschwunden. Die Beamten finden nur ein paar Koksreste auf einer Schallplattenhülle. Darin: ein Album mit acht narkotischen Songs.

Diesen Entstehungsmythos ließ die Chicagoer Songwriterin Haley Fohr vor einigen Wochen durch die sozialen Medien tröpfeln, um ihr neues Album anzukündigen. Aber er wirkte fast ein wenig beschaulich, nachdem kurz darauf Radiohead ihre Online-Präsenz zu Werbezwecken gleich ganz löschten. Um den Vergleich kommt man natürlich nicht herum, wenn es darum geht, Popmusik im Netz zu bewerben. Er ändert aber nichts daran, dass "Jackie Lynn" (Thrill Jockey) eine unerwartete Entdeckung ist.

Die Chicagoer Songwriterin Haley Fohr alias Jackie Lynn. (Foto: Julia Dratel/Thrilljockey)

Ein paar Klicks und Klacks, ein nölender Synthesizer, eine schlürfende Gitarre - fertig!

Haley Fohr, 27, hat mit ihrem Experimental-Projekt "Circuit des Yeux" bereits fünf Platten veröffentlicht und sich den Ruf eines Geheimtipps erspielt. Für Album Nummer sechs legt sie sich nun den Namen Jackie Lynn zu und schlüpft in eine Kunstfigur, die einem Film von Quentin Tarantino entnommen sein könnte. Die zu einer tänzelnden Basslinie durch die Straßen streunt, mit einer Handvoll Briefchen in der Hosentasche, und sich selbst genießt: "Ninety bucks a gram, daddy won't ever understand how I'm living so good", singt sie in "Chicken Picken".

Die Songs, in die Haley Fohr solche Szenen packt, sind erstaunlich sparsam möbliert. Analoge Klicks und Klacks aus dem Drumcomputer, dazu nölt der Synthesizer, die Gitarre schlurft vor sich hin, fertig. Keine Schnörkel, kein Gefrickel zu viel. So wird nach wenigen Takten klar, worum es hier eigentlich geht: Haley Fohrs ziemlich großartigen Gesang. Ein glockenklarer Bariton, so tief, dass er an das eisige Wehklagen von Nico denken lässt.

Zu Schulchor-Zeiten hat Fohr deshalb oft Männerstimmen gesungen. Später hat sie sich bei Live-Konzerten ihre Haare so tief ins Gesicht gekämmt, dass im Publikum keiner genau sagen konnte, ob da nun eine Frau singt oder ein Mann.

Manchmal schraubt Haley Fohr ihre Stimme aber doch auch so hoch, dass sie betört. Und genau dann macht diese Platte am meisten Spaß: Wenn Jackie Lynn wie in "Smile" dem Hinterhof-Proleten mit der süßlichsten Melodie zwischen die Beine tritt, weil sie "so sick of these jocks with their little tiny cocks" ist. Wenn sie ihnen ins Gesicht ätzt, über ihre Worte aber schmalzigsten Pop-Lack zieht.

Noch nie hat Haley Fohr das so zelebriert wie auf "Jackie Lynn". Womöglich liegt es daran, dass sie sich ein widerborstiges Alter Ego übergestülpt hat. Ihren Songs hat die Reinkarnation jedenfalls gutgetan. Circuit-des-Yeux-Alben waren angekratzt, gerne auch ein wenig kaputt. Die Stücke waren mit Kassettenrauschen und Feedback-Bratzereien verhangen. Auf "Jackie Lynn" sind sie direkter, aufgeräumter, und ja: poppiger. Haley Fohr zeigt damit, dass sie eines wirklich gut kann: Songs schreiben.

Man hört es bei "Alien Love", wenn Jackie Lynn auf ihren Komplizen Tom Strong trifft. Wenn einem der Bass ins Ohr schmatzt, die Hi-Hat peitscht und sich der Synthesizer in ein hypnotisches Arpeggio steigert. Oder bei "Franklin, TN": Jackie kommt ein letztes Mal nach Franklin, die Stadt, von der sie sich verstoßen fühlt. Drei Kugeln hat sie im Magazin. Drei Schüsse, mit denen sie ihre Rückkehr kundtut. Herrlich, wie dazu eine angedengelte Twäng-Gitarre zum Schafott geleitet.

Und weil diese Songs einem so hartnäckig im Kopf bleiben, dürfte Jackie gerne auch noch ein paar mehr Schurken gegens Schienbein treten. Nach acht Songs und kaum 22 Minuten ist aber schon Schluss. Was dann auch die einzige Schwäche der Platte wäre: Es hätte ruhig noch etwas weitergehen können.

© SZ vom 26.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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