Pierre Michons Erzählung "Die Grande Beune":Venus mit schönem Hintern

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Mit der Gewalt einer Naturkatastrophe: In seinem Erzählkunststück "Die Grande Beune" schiebt Pierre Michon das Interieur der entfesselten männlichen Libido vor die Idylle Südfrankreichs.

Sibylle Cramer

Im Anfang keimt das Ende. Der in sein Leben zurückblickende Erzähler beteuert, dass ihn nur wenige Höllenkreise vom endgültigen Sturz in den Abgrund trennten, als er damals in jenem Flecken unweit von Périgueux eintraf. Doch so nah er sich an die Vergangenheit heranschreibt, so fern rückt der mit schrillen Martyriums- und Golgathametaphern angekündigte Höllensturz. Nichts, kein Unglück, nicht der geringste Zwischenfall unterbricht das Gleichmaß seiner regenverhängten Tage in Castelnau.

Die Höhlenmalereien von Lascaux: Die Kalksteinhöhlen im südfranzösischen Kanton Castelnau sind hingegen leer, so leer wie Pierre Michons Roman Die Grande Beune auf der Ereignisebene. Doch der Leser nimmt das Vakuum nicht wahr. (Foto: AFP)

Der Zwanzigjährige tritt seine erste Stelle als Dorflehrer an. Tagsüber lehrt er seine Schüler Satzbildung, Rechtschreibung, das Konjugieren; die Abende verbringt er in der Gaststube seines Hotels in Gesellschaft der örtlichen Fischwilderer, deren Revier die Grande Beune ist, der Fluss unterhalb der Schlucht, an der das Dorf liegt.

Seine einzige Abwechslung sind Gänge zum Tabakladen und widerwillig erinnerte Besuche seiner Freundin, die der alten Wirtin offenbar willkommener ist als ihm selbst. Ein räumliches Modell seines Erzählens installiert der Erzähler im vorletzten Kapitel. Das Paar besichtigt eine der Kalksteinhöhlen der Region. Doch die mit dem Stichwort Lascaux geweckte Erwartung geht fehl. Sie finden nichts, keine altsteinzeitlichen Malereien; die Höhle ist leer, so leer wie die Geschichte auf der Ereignisebene.

Der Leser freilich hat das Vakuum nicht wahrgenommen, denn mit dem Augenblick, wo Yvonne, die Verkäuferin im Tabakladen, ins Blickfeld des Erzählers gerückt ist, hat sich der Leser in einen atemlosen Zuschauer des Dramas verwandelt, das sein Opfer mit der Gewalt einer Naturkatastrophe heimzusuchen scheint.

Augenblicklich verwandelt sich der Mann der Aufklärung und des Wissens in einen hungrigen Wolf, dessen obsessives sexuelles Begehren allen Theorien über die kulturelle Zähmung der Triebe hohnspricht. Schlagartig kommt es zur totalen Verinnerlichung des Erzählschauplatzes. Vor die lichte Gartenwelt des Périgord, die Idylle im Südwesten Frankreichs, schiebt sich das Interieur der entfesselten männlichen Libido. Ochsenblutrot ist die Höhle der örtlichen "Sibylle von Cumae" gestrichen, die Hotelgaststube mit dem ausgestopften Fuchs an der Wand.

Martyrium und himmlische Liebe

Mit Hilfe der Ansichtspostkarten im Tabakwarenladen weitet sich die Wolfsschluchtlandschaft um die nahe Höhlenwelt von Lascaux, zu deren Malereien ein einsamer Wolf gehört und ein Frauentyp mit enormem Hinterteil namens Venus. Ihr lebendiges Ebenbild ist Yvonne, die sich umgehend in die mythische "Venus Kallipygos" verwandelt, die mit dem schönen Hintern.

Den Zustand des Fiebernden zwischen Delirium und Martyrium bildet der Erzähler geographisch ab, in der Lage Castelnaus zwischen den Dörfern Les Martres und Saint-Amand-le-Petit, die das Martyrium und die himmlische Liebe im Namen führen.

Die umliegenden Wälder, in denen Yvonne auf dem Weg zu ihrem Geliebten regelmäßig verschwindet, werden zu "tartarischen" Jagdgründen des zum Verzicht verdammten Wilderers. Die Unerreichbarkeit seiner Beute macht ihn zum Voyeur. Phantasierend bemächtigt er sich in wahnhaft aufgeladenen Bildern des weiblichen Körpers, den er schindet und wie der Jäger seine Beute zerlegt.

Um eines Augenblicks illusionärer Nähe willen verschont er zuletzt auch den kleinen Sohn der Geliebten nicht, an dem er sich zuletzt in einer hässlichen kleinen Szene rächt. Auf knappen, im Original 67 Seiten erzählt Michon die Geschichte einer Passion, deren einzige Quelle und alleiniger Garant der Erzähler ist. So bleibt offen, ob die Geschichte "wahr" ist oder der Lust des Erzählers am donnernden Orgelton entspringt.

Wie Julien Gracq (1910-2007) gehört der eine Generation jüngere, 1945 auf dem Land, im Zentralmassiv geborene Pierre Michon zu den großen Antipoden der Pariser Großstadtliteratur. Leider wird die Freude an seinem Erzählkunststück durch die stellenweise unzuverlässige Übersetzung beeinträchtigt.

PIERRE MICHON: Die Grande Beune. Aus dem Französischen von Katja Massury. Mit einem Nachwort von Jürg Laederach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 103 Seiten, 12,90 Euro.

© SZ vom 16.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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