Phrasenmäher:1960er Jahre

Lesezeit: 1 min

Das 20. Jahrhundert ist noch keine zwanzig Jahre vergangen. Der Großteil davon zählt noch zur Zeitgeschichte. Und trotzdem bekommt es von manchen Autoren eine Aura verpasst, als sei es schon so alt wie das 19. Jahrhundert. Alles unklar?

Von Sonja Zekri

Was ist ruhmreicher als die Herrschaft über die Welt? Die Herrschaft über die Zeit. Letztere ist deutlich schwerer zu erringen, was nicht heißt, dass das nicht versucht wurde. Die Bolschewiken beispielsweise ließen nicht nur Millionen Menschen verschwinden, sondern auch 13 ganze Tage, als sie Russland den gregorianischen Kalender aufzwangen. Christoph Ransmayr hat in "Cox oder der Lauf der Zeit" dargestellt, wie der Kaiser von China der Ewigkeit in die Speichen griff. Jedenfalls: Die Zeit, die große Gleichmacherin, ist in Wahrheit eine fiese Spalterin. Ob ein Mensch das Verrinnen einer Sekunde als zähes Tropfen oder rasendes Flackern wahrnimmt, hat nichts mit der Sekunde zu tun. Interessanterweise nehmen die Bemühungen nicht ab, wenn schon nicht das Empfinden, dann doch die Benennung und Messung der Zeit zu harmonisieren. Wenn 4,6 Millionen Teilnehmer an einer Umfrage zur Europäischen Sommerzeit teilnehmen, dann offenbart sich in der Leidenschaft des Streites der Riss in der kontinentalen Schlaf-, genauer: Wertegemeinschaft. Aber man kann es auch übertreiben. Die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts werden inzwischen oft zu "1960er-Jahren" aufgeblasen, als gäbe es Unklarheit darüber, welches Jahrhundert gemeint ist, als liege mit dem Fortschreiten des 21. Jahrhunderts plötzlich das 19. so nahe wie das 18. oder das 16. Jahrhundert, als sei das plötzlich alles eins und weit weg. Und, nein, "die Fünfziger" liegen mindestens 59 Jahre zurück und nicht 32 Jahre voraus. Das 20. Jahrhundert hatte Phasen, die man am besten vergessen möchte, aber ehe man es als relationale Größe so schnell auf dem Müllhaufen der Zeitgeschichte entsorgt, vielleicht doch noch mal eine Sekunde innehalten?

© SZ vom 21.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: