Peter-André Alt: Die Ästhetik des Bösen:Aus dem Hause Teufel

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Wie kommen Ehrgeiz, Eifersucht und Misstrauen in die Welt? Peter-André Alt kennt sich aus in der Geschichte des Bösen - von der Bibel bis zu "American Psycho".

Steffen Martus

Peter-André Alts Studie zur "Ästhetik des Bösen" folgt einer bemerkenswerten Dramaturgie: Sie beginnt mit der Bibel und endet bei Niklas Luhmann. Dem Soziologen, der in seinem Arbeitszimmer in Oerlinghausen eine Gesellschaftswelt erschaffen und in göttlich abgeklärter Allmacht verwaltet hat, hätte dies sicherlich gefallen. Jedenfalls teilt er mit dem biblischen Schöpfungsmythos die Vorliebe fürs Diabolische, denn die für ihn zentrale Theoriefigur des "Beobachters" stammt "aus dem Hause Teufel", wie er in der "Wissenschaft der Gesellschaft" bemerkt.

Im deutsch-österreichisch-ungarischen Spielfilm "Mephisto" spielte 1980 Klaus Maria Brandauer den fahlen Glatzkopf mit den dreieckigen Augenbrauen. Schön ist das nicht. Aber schön böse. (Foto: dpa/ZDF)

Am Anfang des christlichen Abendlands und an dessen Ende im Zeitalter der Globalisierung beschwören Welterklärungen den diabolischen Rebellen und Verführer, der die Welt durch seine Energie in Unruhe und Bewegung versetzt und für jenes Maß an Disharmonie, Störung und Unruhe sorgt, das wir Leben nennen.

Der luziferische Sturz vom Himmel herab in die Hölle versinnbildlicht, so Alt, wie geordnete Raumstrukturen entstehen und wie sich gegen eine selbstgenügsame Ewigkeit die Zeitlichkeit etabliert, wie also jene Dimensionen auftauchen, in denen wir uns zurechtfinden müssen. Dabei bleibt jedoch letztlich die Frage offen, wie das Böse in die Welt des Guten kommen konnte.

Woraus entstanden die Triebkräfte von Ehrgeiz und Eifersucht, von Anmaßung und Misstrauen? Die Geschichte von der diabolischen Rebellion umspielt wie der Genesis-Bericht vom Sündenfall ein eigentümliches Geheimnis, macht es sinnfällig und anschaulich, ohne ihm seine verstörende Kraft zu nehmen. War das Böse vielleicht schon je immer und überall, wie bezeichnenderweise die Band "Erste Allgemeine Verunsicherung" textete?

Orte des Bösen

Alt lässt sich vom biblischen Mythos zur Ästhetik des Bösen führen: Denn die Kunst, insbesondere die Literatur, übernimmt die Aufgabe, den Einbruch des Bösen auszugestalten. Sie verwaltet eine fundamentale Irritation. Gerade die Literatur erkundet seit dem späten 18. Jahrhundert erzählerisch die ungewissen Randzonen als Orte des Bösen. Sie erprobt die Freiheit der Kunst von der Moral. Von den routinierten Exzessen de Sades, von den "gothic novels" der englischen Romantik oder den Schauergeschichten E.T.A. Hoffmanns an spielt Poesie damit, dass sie böse und zugleich schön sein kann. Ebenso bedrohlich wie verführerisch entzieht sie sich der rationalen Kontrolle.

Dass sich diese Ästhetik nicht einfrieden lässt, liegt auch an der eigentümlichen Unbestimmtheit und Vielgestalt des Bösen. Literarisch tritt es gerade nicht begrifflich klar und eindeutig auf, sondern verstreut: in einem kulturellen Ensemble, das seine Macht und Wirksamkeit durch Omnipräsenz sichert: "Trieb, Monotonie, Langeweile, Ekel, Aggression, Ich-Spaltung, Selbstliebe und Selbsthass" - dies sind einige jener "Attribute und Ausprägungen" des Bösen, denen Alt anhand einer Überfülle an Beispielen aus der deutschen, anglo- und frankophonen Literatur nachgeht.

Alt zielt auf eine historisch sensible Typologie. Literaturgeschichtlich skizziert er einen Prozess, der die traditionelle Mythologie des Bösen verabschiedet. Der triumphale Auftritt des Teufels etwa vermag in der Moderne nicht mehr zu überzeugen. Von nun an steckt er im Detail.

Der Mythos vom Sündenfall legt nahe, dass die Suche nach den Ursprüngen des Bösen in die Seele des Menschen führt - es bedarf nur einer zarten äußeren Stimulation, damit der Mensch sich selbst vom rechten Weg abbringt. So betrifft die Abschaffung des Teufels in der Aufklärung nur dessen leibliche Existenz. Seine Macht aber hat er deswegen nicht verloren.

Im Gegenteil: Die "neuen Künste des Teufels" entfalten sich nun in der Imagination und im Imaginären. Der Mephisto von Goethes "Faust" muss ohne "Hörner, Schweif und Klauen" auskommen. Gerade in dieser Erscheinung aber entfesselt er die menschlichen Sehnsüchte, und mehr bleibt für ihn auch nicht zu tun. Das Böse des Mythos - so bemerkt Alt im Blick auf E.T.A. Hoffmann - ist ein alter Vertrauter; mit ihm lässt sich umgehen. Aber auf dem "schmutzigen Grund der Seele" lauert es in unfassbarer Vielgestalt.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie und wo sich das Böse tummelt.

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An dieser Stelle setzt das typologische Projekt von Alt an: Denn auch die Literatur entwickelt "Sicherungsmaßnahmen" gegen das befreite Böse. Sie etabliert "überschaubare Strukturen", die es "einschlägig vergegenwärtigen". Dazu gehören Verfahren der Psychologisierung und Subjektivierung einer eigenständigen Kraft des Bösen von Schillers "Räubern" oder Jean Pauls "Titan" bis hin zu den Preziosen der Unmoral bei Baudelaire und George; dazu gehören Szenarien der Wiederholung, die traditionell die Hölle als Ort der Monotonie entwerfen und die Vorstellung des Bösen von de Sade bis hin zu Süskinds serienmordendem Parfumeur rhythmisieren; und dazu gehören Formen der Überschreitung, Überbietung und Grenzverletzung, die die klassischen Figuren wie Frankensteins Monster und Dracula genauso zelebrieren wie die Kriminellen des 19. Jahrhunderts oder die Wahnsinnigen des Expressionismus.

Der Exzess wird schließlich bei Nietzsche und seinen Nachfolgern zu einer geradezu heiligen Sache und zu einem literarischen Prinzip, das so unterschiedliche Autoren wie Kafka oder Jünger verbindet.

Umrissen ist damit nur ein Bruchteil der Gegenstände, die Alt behandelt: beeindruckend belesen, klug und immer wieder mit überraschenden Volten, mit einem kritischen Blick auf die Forschungsliteratur und philosophische Debatten.

Die "Ästhetik des Bösen" lässt eine Revue literarischer Werke passieren. Sie erspart dem Leser keinen Seitenblick und keine theoretische Hürde. Zwischen Adorno, Foucault, Agamben und Zizek manövriert Alt nicht weniger souverän als in der internationalen Riege der Autoren einer "bösen" Poesie vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Vor allem aber nimmt Alt die Literatur wichtig, gerade in ihrem Anspruch auf Form.

Der Körper von Hyde, das Bewusstsein von Jekyll

Glanzstücke der Analyse gelingen ihm bei jenen Werken, deren Inhalt die Aufmerksamkeit der Kritiker oftmals okkupiert und damit vom Wesentlichen abgelenkt hat: An Jonathan Littells SS-Roman "Die Wohlgesinnten" demonstriert Alt, dass das darin verkörperte Böse so komplex ist, dass ihm "nur die Polyphonie der Weltliteratur gerecht werden kann"; die Gewaltorgien in Bret Easton Ellis' "American Psycho" entziffert er als eine letzte Steigerung der "Ästhetik des Bösen", weil darin das Böse die Erzählung selbst strukturiert.

Alt befragt die Poesie als ein ganz eigenes Medium zur Erkundung des Bösen, nimmt ihren Anspruch auf Autonomie ernst, ohne sie als eine moralfreie Zone zu kartographieren. Das abschließende Kapitel über die "moralischen Implikationen unmoralischer Literatur" befragt daher die "Kunst des Bösen nach Auschwitz" nicht als politisch korrekte Pflichtübung, sondern führt die Argumentationsstränge des ganzen Buchs zusammen.

Stets, so Alts zentrale These, bleibt die "Ästhetik des Bösen" auf jene moralischen Grenzen bezogen, die sie übertritt - sie ist prinzipiell "verunreinigt", mit nicht-literarischen Wertmaßstäben kontaminiert. Der "Doppelcharakter der literarischen Fiktion" sorgt dafür, dass die moderne Ästhetik des Bösen eine "gemischte Wirkung" erzielt. Sie rückt uns das Böse faszinierend nahe, befreit es aber gleichwohl nicht vom Einspruch des moralischen Urteils.

Bei aller Lust am Bösen fühlen wir uns zu einer Stellungnahme gezwungen. Die Literatur, so lautet das Fazit Alts, beschert uns "eine Begegnung mit Hydes Körper, repräsentiert durch das Bewusstsein Henry Jekylls".

PETER-ANDRÉ ALT: Ästhetik des Bösen. Verlag C.H. Beck. München 2010, 714 Seiten, 34 Euro.

© SZ vom 14.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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