Ukrainisches Tagebuch (VI):Galgenhumor ist auch eine Waffe

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Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Viel Zeit zum Tagebuchschreiben gibt es nicht in diesem Krieg. Es gibt immer was zu tun, zum Beispiel für Kinder aus der eingeschlossenen Stadt Mariupol.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

5.3.2022

Den Vormittag am 5. März verbringe ich im Büro, der Laptop ist meine Hauptwaffe in diesem Krieg. Nach einer Woche sind mehr als 45 000 Euro Spenden auf dem Konto unserer Partnerinstitution, des IKGS, Institut für Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München, eingegangen. Die ersten mit diesem Spendengeld gekauften Hilfsgüter werden gerade an der Grenze aus einem Bus der rumänischen Partneruniversität "Stefan cel Mare" in einen ukrainischen Transporter verladen, meine engsten Verbündeten in diesem Krieg, S. und O., tun das gerade.

Es tut gut, feststellen zu können: Wir drei sind nicht nur im Frieden ein eingespieltes Team, wir ticken auch im Krieg gleich. Selbstverständlich ist das nicht. In Suceava kümmert sich der Prorektor der Universität persönlich um die Logistik. Multe mulțumiri, domnule Prorector. In Tscherniwzi ist alles schnell verteilt.

Mein Doktorvater ruft an, er habe "eine fast absurde Frage in dieser Zeit". Sein Sohn und seine Familie konnten Charkiw nun doch verlassen und sind auf dem Weg nach Tscherniwzi. Ob ich einen Tipp für eine Unterkunft hätte. Er selbst, einer der renommiertesten Germanistik-Professoren in der Ukraine, und seine Frau leben in einer Zweizimmerwohnung. Fünf weitere Personen dort aufzunehmen, ist unrealistisch. Nach einem kurzen Telefonat kann ich ihm antworten, dass er sich fast als Jackpot-Gewinner verstehen kann. Der Galgenhumor ist auch eine unserer Waffen in diesem Krieg. Die allerletzte uns zur Verfügung stehende Unterkunft haben wir tatsächlich bis jetzt freigehalten, die der DAAD-Sprachassistentin. Hoffentlich schafft die Familie den weiten Weg gut.

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Eine Begründung für die Benutzung einer Badeanstalt habe ich noch nie geschrieben

Für diesen Tagebuch-Text, den ich am Sonntag abgeben soll, habe ich ungewöhnlich viel Zeit, denke ich am Samstagnachmittag, als ich von der Universität zurückkomme. Vielleicht sogar eine Stunde am Abend und dann am Sonntagmorgen, bevor meine Gäste aus Schytomyr und ich gegen 11 Uhr Richtung rumänische Grenze aufbrechen. Mutter und Sohn wollen nach Polen, unsere deutschen Freunde aus Potsdam sind auf dem Weg nach Rumänien, holen die beiden ab und bringen sie zu einer Verwandten in Wroclaw.

Sie passieren die Grenze zu Fuß, die Männer und ich fahren zurück. Allgemeine Mobilmachung bedeutet, dass Männer zwischen 18 und 60 das Land nicht verlassen dürfen, es sei denn, sie haben ein einschlägiges ärztliches Attest. Am Abend sitzen wir sogar kurz alle zusammen - mit der Familie meiner Schwester, die nebenan wohnt.

Ein Anruf durchkreuzt meinen Plan eines durchdachten Schreibens ohne Eile. Eine Gruppe Kinder aus Mariupol, 40 Personen, konnte aus der belagerten Stadt gerettet werden. Sie werden morgen Mittag in Tscherniwzi sein, dann geht es weiter nach Rumänien. Hier wollen sie eine Pause einlegen, eine Freikirche stellt Essen zur Verfügung, und mit einer öffentlichen Badeanstalt wurde vereinbart, dass die Kinder dort duschen können. Sie mussten mehrere Tage in Schutzräumen ausharren.

Mariupol ist eingeschlossen, Nachrichten an eine Kollegin gehen nicht durch

Ob ich Pflegesets besorgen kann? Bestimmt, das bedeutet nur, dass es morgen früh erst einmal in einen Supermarkt geht. M.s Bruder kann mit dem Auto hin, das schaffen wir schon vor elf Uhr. Allerdings wird es kein ruhiger Sonntagmorgen zum Schreiben. Außerdem muss ich ein Begründungsschreiben verfassen, die Direktorin ist zwar kooperativ, aber etwas Schriftliches muss sie haben, die Bürokratie hört im Krieg nicht auf. Eine Begründung für die Benutzung einer öffentlichen Badeanstalt habe ich zwar noch nie geschrieben, mit etwas Fantasie gelingt das jedoch, Aufsätze schreiben gehörte in der Schule zu meinen Stärken. Ob die gute Dame es so akzeptiert, werde ich später erfahren.

Mariupol, eine Hafenstadt mit 400 000 Einwohnern, die die russischen "Befreier" 2014 schon mal dorthin geschickt habe, wohin das "russische Kriegsschiff" am ersten Kriegstag durch die Verteidiger der Schlangeninsel geschickt wurde, ist seit sechs Tagen eingeschlossen. Diese Taktik soll wohl die "Entnazifizierung der Ukraine" an mehreren Orten beschleunigen.

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Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Mariupol ist dem deutschen Leser aus dem Roman "Sie kam aus Mariupol" von Natascha Wodin bekannt. In dieser Familiengeschichte wird auch viel von der spannenden, multinationalen Stadtgeschichte erzählt. Aus Mariupol kommt auch eine Studentin, die bei uns im Zentrum Gedankendach Praktikum gemacht hat, kurz vor dem Pandemieausbruch. Der Kontakt zu R. blieb erhalten, zuletzt besuchte sie uns im Dezember und erzählte viel von ihrer Arbeit in einer internationalen Organisation in ihrer Heimatstadt. Eine aufgeweckte, gut gebildete angehende Verwaltungsfachfrau. Meine Nachrichten an sie am 3. März sind nicht zugestellt worden, zwei weitere am 5. März ebenfalls nicht.

Die Evakuierung aus der Stadt ist gescheitert, weil die Feuerpause von den Russen nicht eingehalten wurde. Das war beinahe vorherzusehen. Das Nichteinhalten von Vereinbarungen auf allen Ebenen ist ein prägender "Wesenszug" unseres östlichen Nachbarlandes. Ich hoffe dennoch auf den Moment, wenn eine Antwort von R. auf meinem Smartphone erscheint.

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