Oper und Kulturlockdown:"Sie sind unser Sauerstoff"

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In Berlin wird eine Premiere zur Dernière. Was fehlt: göttlicher Beistand

Von WOLFGANG SCHREIBER

Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, begrüßt sein Restpublikum aufgekratzt auf leerer Bühne. "Alle sind gesund? Wir brauchen Euch! Sie sind unser Sauerstoff!" Statt Resignation und Verzweiflung nur pfiffiger Trotz in den Stimmbändern. Ob man die Oper nicht in eine Synagoge umwandeln könne, scherzt er noch, Gottesdienste blieben ja geöffnet.

Kurz vor der Abriegelung auch seines Hauses feierten am Wochenende coronabedingt rund 340 Besucher noch mal Premiere und zugleich Dernière, nach Koskys tiefem Glaubensbekenntnis turbulent mit Jacques Offenbachs Opéra bouffe "Die Großherzogin von Gerolstein", der dreisten Satire auf politische Intrige, Unverstand, Militarismus, entstanden zur 1867 sich blähenden Pariser Weltausstellung.

Die Bühne hält Kosky zweieinhalb Stunden, bis auf die Brandmauer gähnend leer, doch seine Inszenierung feuert aus allen Rohren präzise gesetzter Blödelei, es triumphieren die Darsteller, sieben Sänger und vier Tänzer, es betören die Kostüme des Klaus Bruns. Wie sich dringender Personenabstand auf einer Bühne herstellen lässt, wird dank riesiger Reifröcke und Fatsuits plausibel gemacht. 18 Orchestermusiker treibt die russische Dirigentin Alevtina Ioffe in den schmissigsten Offenbach-Wahn. Die Großherzogin erscheint transvestitenaufgemotzt als Mann, dem tollen norwegischen Bariton Tom Erik Lie.

Im Berliner Spiegelzelttheater "Bar jeder Vernunft" präsentierten bis neulich Anna Mateur & The Beuys ihr Musikkabarett "Kaoshüter", was für ein dialektischer Ehrentitel wäre das für Barrie Kosky, den schlitzohrgenialen Ordnungshüter der Komischen Oper! Also Operette oder Synagoge? Die Brauchbarkeit der Großherzogin versteht sich in einem von Karl Kraus beschworenen Kosmos, der Welt "fantasiebelebender Unvernunft, in der sich der Unsinn von selbst versteht". Nur, in Offenbachs Lachtheater der Gegenwart taucht am Ende noch eine Einsicht auf für alle resigniert Tapferen: "Wenn man nicht haben kann, was man liebt, muss man lieben, was man hat."

© SZ vom 03.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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