Österreichische Literatur:Mit Frau Holle im Atom-U-Boot

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H.C. Artmann: Gesammelte Prosa. Herausgegeben von Klaus Reichert. Band 1: 1949-1971, 789 Seiten. Band 2: 1972-1996, 669 Seiten. Residenz-Verlag, Salzburg 2015. 49,90 Euro. (Foto: Verlag)

Wer so schreiben kann, muss einen heißen Draht zu Kaltmamsellen haben: die "Gesammelte Prosa" des Wiener Autors H.C. Artmann ist eine rasante Geisterbahn durch die Abgründe des Österreichischen.

Von Rudolf Neumaier

Angenommen, H. C. Artmanns Figürchen wären Protagonisten eines ausgewachsenen Romans, sagen wir in der Länge eines Schinkens des Heimito von Doderer. Wäre das überhaupt auszuhalten? Kaum. Wer wollte wirklich mehr erfahren über jene wunderbare Kaninchenbeschälerin, die in der Geschichte "Grunzbojar im Musenhain" mit den Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz einen kollektiven Orgasmus erlebt? Sie "verdreht die augen wie eine sodomierte nonne" und das Antlitz des Geflügelschoppers "leuchtet in der farbe einer zellophanierten rothhändlepackung". Oder über Herrn Alois Schaffranek, der Woche für Woche 895 Liebesbriefe schreibt? Er schickt sie an 895 Frauen, die sich von ihm die Ehe erhoffen. So weit, so bizarr - mehr braucht's nicht.

Artmann ist ein überwältigender Maler von Kleindarstellern. Dabei kommt es weniger auf Seelen oder Charaktere an, sondern vielmehr auf die Sprache, mit der er sie pinselt. In seinen Geschichten kann er's schon mal wuseln lassen wie auf einem Wimmelbild, auf dem Gestalten von Hieronymus Bosch und Otto Dix Ringelreihen spielen. Viele von diesen Texten sind recht kurz, drei, vier Seiten. Man kann sie lesen wie Kalenderblätter, jeden Tag eine. Aber dann wieder von vorne!

Auf dem Rückdeckel von einem der beiden Bände, mit denen der Salzburger Residenz-Verlag "Gesammelte Prosa" des Österreichers zu dessen 15. Todestag im vergangenen Dezember neu veröffentlicht hat, ist Sven Regener mit der Huldigung zitiert, Artmann sei "mit großem Abstand der Allergrößte". Das sagt viel aus über die fortlebende Wertschätzung für den Großpoeten, der im Juni 2000 im Alter von 79 Jahren starb. Es verrät aber auch, welche Klientel Artmann anspricht. Regener, Schöpfer von "Herr Lehmann" und Frontgesicht der heiteren Schwermutchansonniers Element of Crime, hat wie alle Artmannverehrer eine ausgeprägte Zuneigung zum Surrealen. Wer Artmann aus dem Regal holt, will sich nicht mit einer Story voller Spannung die Freizeit vertreiben oder sich am Humor literarischer Spaßvögel kaputtlachen. Wer zu Artmann greift, braucht eine Pause von der Welt und ihren weltlichen Begriffen wie Freizeit und Spannung und Humor. Was aber keineswegs ausschließt, dass die Artmannlektüre amüsieren und begeistern kann, im Gegenteil.

Als Artmann im Jahr 1997 den Georg-Büchner-Preis erhielt, sprach er über seine dichterischen Intentionen. Er bezeichnete sein Schreiben als "Kritik am Realen", die sich darin manifestiere, "über die Phantasie das Reale, wie es sich mir zeigt, zu bannen". So schrieb er eben Fantasy-Geschichten, die natürlich mit dem heute bestens verkäuflichen Fantasy-Genre weniger gemein haben als mit Eugène Ionesco und Samuel Beckett. Und dann ist Artmann vor allem ein Vorbild für alle, die mit dem Material Sprache neue Bilder malen wollen. Bilder, die noch kein Mensch gesehen hat, aber jeder sofort versteht - Bilder eben mit wollüstigen Geflügelschoppern, Kaninchenbeschälerinnen, Kartoffelschrubberinnen, Bratenvorschneidern, Kaltmamsellen.

"Gnädich haum's de Maunsbüda. Ohne z'frogn ins foesche Opdäu."

Manche Texte würden als Märchen durchgehen. "Sie werden das, was ich ihnen jetzt erzähle, kaum glauben, aber die folgenden vorfälle entsprechen tatsächlich der wahrheit", beginnt er seine Geschichte "Frankenstein in Sussex", um dann Frau Holle mit Mary Wollstonecraft Shelley als Kontrahentinnen zusammenzubringen. Frau Holle besteigt am Ende ein rettendes Atom-U-Boot, während Shelley sich nackt durch das Abflussrohr ihrer Badewanne zum Showdown verabschiedet, wobei wiederum das Abflussrohr einen vulgären Schmatzlaut von sich gibt. Für Artmannianer sind solche Stellen herrlich, für alle anderen herb - zu herb womöglich. Seltsamerweise erinnern gerade solche Texte in dieser Prosa-Sammlung an Nummern des Künstlers Josef Hader, der in "Privat" mit ähnlich absurden Geschichten das angeblich meistgespielte Kabarettprogramm Österreichs schrieb und spielte.

Hans Carl Artmann schrieb neben diesen Prosatexten Gedichte und er übersetzte. Sprachen in allen Entwicklungsstadien und ihre Stile faszinierten ihn. Die Barockliteratur inspirierte ihn zu dichterischen Innovationen. "Bei keinen Sprachbaumeistern hat er wohl mehr gelernt als bei denen des Barock, den deutschen, französischen, spanischen, italienischen, denn sie praktizierten Extreme der Künstlichkeit, einer Entäußerung durch Stilisierung, so dass sich in der Maske sagen ließ, was als Selbstausdruck sich verbot", sagte der Anglist Klaus Reichert einmal, der diese Werkausgabe zusammengestellt und mit einem kundigen Nachwort versehen hat. Artmann habe "das Barock als Haltung und Verfahren neu" erfunden.

In manchen seiner frühen Prosa-Schriften zeichnete Artmann noch vergleichsweise reale, ja authentische Wiener Miniaturen. Er schrieb über das Café Hawelka in der Dorotheergasse und - wie in seinen wuchtigsten Gedichten - im Dialekt der wienerischen Unterschichten, der ihm als Schustersohn vertraut war. "Gnädich haum's de Maunsbüda. Ohne z'frogn ins foesche Opdäu, kan Schenira, fost diarekt opsichtlich da s maunche!" Für Bremer wie Sven Regener wäre bei einer Werkausgabe wie dieser eine Übersetzung sicher hilfreich. Wer des Österreichischen nicht mächtig ist, wird solche Stellen für eine Geheimsprache halten und noch mehr bewundern. Artmann zu lesen, ist so zauberhaft, wie von einer Kaninchenbeschälerin zu träumen, die wiederum von Herrn Alois Schaffranek träumt und von Frau Holle gerettet wird, während sich die nackte Mary Shelley in der Badewanne von Sven Regener und Hieronymus Bosch shamponieren lässt.

© SZ vom 29.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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