New Yorker Jugend:Leben als Fragezeichen

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Ein irrlichternd schöner Roman von Jesse Browner über eine Jugend in Greenwich Village, zwischen Kalbsbries und Tolstoi.

Von Fritz Göttler

Ein Loch abdichten, durch das der Regen reinkommt und den Geist am Rumwandern hindert, wohin er gehen will . . . So simpel ist das Programm von Wes, siebzehn, als er samstags in der Früh auf seinem Bett liegt - die Zeilen aus dem Beatles-Song, "Fixing a Hole", hat er nie wirklich verstanden, nun kommen sie ihm in den Sinn, als er den Putz abblättern sieht an der Decke seines Zimmers. Eben erst ist er nach Hause gekommen, nachdem er die Nacht auf der Party bei Lucy war und, nach drei Bloody Marys, zum ersten Mal mit einem Mädchen schlief. Mit Lucy, nicht mit seiner Freundin Delia.

Der Samstag, von dem Jesse Browner in " Alles geschieht heute" erzählt, ist gewissermaßen der Endpunkt eines "coming of age", und er scheint mehr als überfällig zu sein - für sein Alter entwickelt Wes eine kapriziöse, manchmal enervierende Altklugheit, was sein Leben angeht und die Literatur, aus der er seine Weisheit bezieht. Es ist nicht ganz einfach, dieses Leben in dem schönen alten Haus, mit Hinterhof und antiker Badewanne, im New Yorker Viertel Greenwich Village, unter lauter Intellektuellen- Literaten, Künstler, Professoren, Wes' Vater hat einen (erfolglosen) Roman geschrieben und lehrt kreatives Schreiben. Wes hat schon das ganze " Krieg und Frieden" durchgearbeitet, mit gelbem Marker, und macht sich jede Menge Gedanken zu Natascha und Andrej, Petja und Pierre.

Die Mutter ist schwer krank, Multiple Sklerose, sie verlässt ihr Bett nicht mehr, Wes und seine jüngere Schwester Nora sorgen für sie und lassen sich schikanieren von ihr, sie füttern sie mit Reispudding, lesen ihr vor oder schauen mit ihr Folgen "Freude am Malen" an, der Sendung mit Bob Ross, oder von "Gossip Girl". Bob Ross ist herrlich pragmatisch, wenn er den Zuschauern das Malen beibringt, und damit ein willkommener Evasionskünstler. "Sein Vater hatte recht - das waren alles Tricks, sonst nichts - und trotzdem waren sie unwiderstehlich. Wes war definitiv einer Meinung mit jedem, der lieber Bob Ross zusehen und zuhören wollte als sich der Realität zu stellen.

An diesem Samstag aber - es ist November 2008, die Präsidentschaftswahlen stehen bevor - muss Wes sich definitiv der Realität stellen, die Sachen mit den Frauen klären, Lucy und Delia, und auch Mrs. Fielding, seine Lehrerin - für sie muss Wes eine Literaturanalyse nachliefern, zu einem Werk der europäischen Literatur - in seinem ersten Versuch hatte er nicht Leute wie Voltaire, Austen oder Gogol ausgesucht, sondern die Bedienungsanleitung für das M16 der amerikanischen Armee!?

Es ist ein irrlichternd schönes Buch, das den Geist zum Wandern bringt, zwischen gestern Nacht und heute, zwischen Erinnerung und moralischer Reflexion, zwischen Glück verheißenden und selbstquälerischen Momenten, und zum Finale gibt es die definitive Würdigung von Kalbsbries - Jesse Browner - der auch Cocteau und Rilke übersetzte - schreibt gern über gastronomische Themen. Einer automatischen Rechtschreibprüfung, resümiert Wes seine Selbstbefragung, entgeht manchmal ein Wort, das nicht falsch ist, aber an der falschen Stelle. "Das bin ich. An mir ist auch nichts falsch, glaube ich zumindest, aber trotzdem wirke ich irgendwie fehlerhaft. Ich passe nicht zu dem Rest des Satzes, so wie alle in meinem Umfeld denken oder ihr Leben leben . . . Ich bin ein Fragezeichen am Ende eines Aussagesatzes."

Jesse Browner: Alles geschieht heute. Aus dem Englischen von Anne Brauner. Freies Geistesleben 2014. 249 Seiten, 19,90 Euro.

© SZ vom 30.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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