Nachruf:Die Erde ist nur eine Dimension

Lesezeit: 3 min

Genesis P-Orridge, Mitgründer der "Throbbing Gristle" und Bote der imaginären Zeit, ist gestorben.

Von Jan Kedves

"Wenn du an einem schönen Samstagnachmittag einkaufen gehst und die Menschen siehst, die lachend mit ihren Familien und Kindern spazieren gehen oder in der Bar zusammen Fußball schauen, musst du wissen, dass dich wenigstens 20 Prozent von ihnen vergewaltigen würden, wenn es einen Krieg gäbe", sagte Genesis P-Orridge im Jahr 2017 in einem von Ulrich Gutmair geführten Interview der Zeitschrift Spex . Da war der Künstler längst eine Legende der Performance, der Industrial-Musik, der experimentellen Geschlechter-Philosophie, der Auskundschaftung sämtlicher Formen des Okkultismus - aber vor allem war er: Ein Mensch, der mit düsterem, zugleich aber sehr verknalltem Blick aufs Chaos dieser Welt blickte. Wenige Monate später bekam er die Diagnose Leukämie. Seitdem wusste man: Wenn's schlecht läuft, müssen wir schon bald Abschied von ihm nehmen.

Geboren wurde P-Orridge 1950 als Neil Andrew Megson in Manchester. Seinen genialen Künstlernamen - "Schöpfungsgeschichte H-Aferbrei" - legte er sich in Hull zu, wo er Ende der Sechzigerjahre gemeinsam mit Cosey Fanni Tutti und Peter "Sleazy" Christopherson die Performance-Gruppe "COUM Transmissions" gründete. Sie nahmen sehr viel LSD - das war normal damals. Und sie wälzten sich zu brutal lautem Tosen auf der Bühne im eigenen Urin, Blut und Erbrochenen - das war schon ungewöhnlicher. COUM Transmissions wollten ein menschgewordener Schockfaktor sein. Abgeordnete der Tories in Westminster nannten sie: "Zerstörer der Zivilisation".

Gemeinsam mit seiner Ehefrau entwickelte er das Konzept der Pandrogynie, der Paar-Identität

1975 taufte sich das Trio in "Throbbing Gristle" (zuckende Erektion) um und nahm als viertes Mitglied den Synthesizer-Frickler Chris Carter auf. Sie spielten herrlich avantgardistische, elektronische Pop-Musik - so memorabel wie kaum etwas sonst in der Pop-Avantgarde. Das Stück "Hot On The Heels Of Love", das sie 1979 auf dem Album "20 Jazz Funk Greats" veröffentlichten: Es klingt, als hätte sich die Gruppe "Kraftwerk" aus Düsseldorf in einem britischen SM-Club auspeitschen lassen, von einer Domina, die ihre Arbeit noch ernst nimmt. Tatsächlich arbeitete Cosey Fanni Tutti damals als Domina, und die schnalzenden Sound-Effekte in dem Stück klingen ... aua!

Später gründete P-Orridge die Gruppe "Psychic TV". Auf deren erstem Album "Force The Hand Of Chance" (1982) finden sich - inspiriert von Americana und den Rolling Stones - große Pop-Momente, etwa in den Songs "Just Drifting" und "Stolen Kisses". Und doch wird Genesis P-Orridge vor allem als Performance-Künstler in Erinnerung bleiben. Gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Jacqueline Breyer alias Lady Jaye Breyer P-Orridge entwickelte er in den Neunzigerjahren das Konzept der Pandrogynie, einer Paar-Identität jenseits traditioneller Vorstellungen von Geschlecht und Liebe. Beide ließen sich Fett absaugen, an anderen Stellen wieder einspritzen. Lady Jaye ließ sich Kinn-Implantate einsetzen, Genesis ließ sich Brüste anoperieren. Das Ziel: sich gegenseitig immer ähnlicher zu werden. Die Inspiration dazu kam unter anderem von William Burroughs' literarischem Prinzip des Cut-up.

Sie dokumentierten diesen Angleichungs-Prozess, machten Kunst und Collagen aus dem Material, zeigten es in Galerien und Museen. Vielleicht wird dies die prägendste Idee von Genesis P-Orridge bleiben: dass man nicht Transgender sein muss, wenn man seinen Körper weiblicher gestalten lässt. Sondern dass es auch darum gehen kann, der geliebten Frau noch viel näher kommen zu wollen, als es Intimitäts- und Partnerschafts-Rituale wie Sex und Ehe erlauben. Das Geld dazu kam, wie das Magazin Variety schreibt, aus dem Schadenersatz von 1,5 Millionen Dollar, den P-Orridge zugesprochen bekommen hatte, nachdem er sich 1995 im Haus des Musikproduzenten Rick Rubin in Kalifornien schwere Verletzungen zugezogen hatte. Dort war ein Feuer ausgebrochen.

Lady Jaye starb im Jahr 2007 mit 38 Jahren an Magenkrebs, seitdem betrachtete sich P-Orridge als übrig gebliebene Hälfte des gemeinsamen Körpers und Kunstprojekts. Er wohnte weiter in New York, wählte für sich auch weiter das geschlechtsneutrale Pronomen "s/he", das sich eher ungelenk ins Deutsche übersetzen lässt: "sie/er". Häufig auch: "we", also "wir".

"Wir wissen, dass wir die Antwort nie finden werden, aber es macht Spaß, danach zu suchen"

P-Orridge war in den letzten Jahren eine Alternativ-Celebrity des Pop, er lachte mit seiner rauchigen Bauarbeiterstimme das schmutzigste Lachen der Welt und sah mit seinen blondierten Haaren und den Haarspängchen am Scheitel hinreißend aus wie eine burschikose Heidi mit Goldzähnen. "Was war vor dem Urknall? Und was war es, wer war es? Was manche Gott nennen, bezeichnen wir als IT, das steht für Imaginary Time. Wir wissen, dass wir die Antwort nie finden werden, aber es macht Spaß, danach zu suchen", sagte er im eingangs erwähnten Spex-Interview.

Die Suche ist nach 70 Jahren am Samstag in New York zu Ende gegangen, jedenfalls auf dieser Erde. Sie war für Genesis P-Orridge aber nur eine von vielen denkbaren Dimensionen.

© SZ vom 17.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: