Nachdenken über Sklaverei :Amerikanische Anthropologie

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Man hatte die Logistik, Hunderttausende Menschen aus Afrika zu versklaven. Warum aber gab es keinen Zug für die Flucht der Sklaven in den Norden? (Foto: Johannes Simon)

Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead zeichnet in seinem Roman "Underground Railroad" die fantastische Überhöhung einer Flucht aus der Sklaverei. Ein Buch für die Gegenwart.

Von Nicolas Freund

Bei einem Vortrag in Chicago im Jahr 2009 verriet Colson Whitehead, dass er als Student der "schwarze Stephen King" werden wollte. "Ich wollte das schwarze 'Salem's Lot' und das schwarze 'Shining' schreiben. Eigentlich jeden Stephen-King-Titel mit einem 'schwarz' davor. Das war mein höchstes Ziel zu dieser Zeit." Wenn Stephen King der Soziologe unter den amerikanischen Schriftstellern ist, dann könnte Colson Whitehead der Anthropologe sein. Kings Romane sind oft großformatig angelegte Studien einer Gesellschaft, in die das Böse einbricht, das in den dunklen Ecken Amerikas vor sich hin gärt. Das Böse bei Colson Whitehead kommt dagegen nicht aus dem dunklen Wald oder der Kanalisation, sondern ist das Werk der Menschen.

In seinem 2011 erschienen Roman "Zone One" hat Whitehead die Erforschung der amerikanischen Kultur nicht nur zum Inhalt, sondern zum poetischen Prinzip gemacht: In der nahen Zukunft tobt in New York ein Zombievirus wie aus dem Horrorkino und der unauffällige Mark Spitz streift auf Untotenjagd durch die Hochhausschluchten und endlosen Treppenhäuser der ausgestorbenen Großstadt. Das dutzendfach durchgekaute Zombie-Genre reichert Colson Whitehead mit beißendem Sarkasmus und einem sezierenden Blick auf die Stadt New York an, virtuos erzählt entlang an Spitz' Assoziationen beim Wandern durch die von Monstern bevölkerte Metropole, wo die Zombies an seine Lehrerin erinnern, und ihn an jeder Ecke ein freches Comic-Gürteltier zu verhöhnen scheint. In diesen Ruinen New Yorks schürft Whitehead nach den amerikanischen Mythen vom Trash-Fernsehen bis zur Kapitalismuskritik des Zombies.

Das Böse kommt nicht aus dem dunklen Wald oder der Kanalisation, es ist das Werk der Menschen

Einen anderen amerikanischen Mythos hat er in das Zentrum seines neuesten Romans "Underground Railroad" gestellt, mit dem er beim Literaturfest München auftritt und der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Die Underground Railroad war im 19. Jahrhundert eine geheime Organisation, die schwarzen Sklaven aus dem Süden der USA bei der Flucht in den Norden half. Ohne vor Schilderungen auch der größten Grausamkeiten zurückzuschrecken, die den Sklaven angetan worden sind, erzählt Whitehead von der Flucht der jungen Cora von der Baumwollplantage, auf der sie aufgewachsen ist. Es geht durch die von Sklavenjägern wimmelnden Wälder und Sümpfe bis in die trügerische Sicherheit der improvisierten Verstecke der Underground Railroad. Durch einen Einbruch des Fantastischen in die grausame Realität der Sklaverei wird im Roman der Deckname der Organisation zur Wirklichkeit: Die Fluchthelfer haben tatsächlich eine unterirdische Eisenbahn in den liberalen Norden gebaut.

Warum gab es diese U-Eisenbahn eigentlich nicht wirklich? Wie kann es sein, dass der logistische Aufwand, Hunderttausende Menschen aus Afrika auf den amerikanischen Kontinent zu verschiffen möglich war; dass die Infrastruktur der Baumwollplantage funktionierte, die Möglichkeit einer solchen Eisenbahn in die Freiheit aber wie aus einem Märchen erscheint? Die Idee der Untergrundbahn provoziert mit dieser leichten Verfremdung der Geschichte auch zu einem kritischen Blick auf das eigene Weltbild, denn der Rassismus lauert schon in der freien Marktwirtschaft, die den schwarzen Körper wie Geld behandelte: ohne eigenen Willen und als reines Mittel zum Zweck.

Nach dem verschachtelten Erzählen in "Zone One" zeigt Whitehead in dem neuen Roman die Mythen gewordenen Geschichten der Underground Railroad und die historischen Fakten der Sklaverei schnörkellos, als könne jeder komplizierte, erzählerische Trick ihre Wirkung nur schmälern. Der in den USA nach wie vor herrschende, offene und institutionelle Rassismus ist zur erzählten Welt des Romans geronnen. Das Buch für die USA der Gegenwart.

Colson Whitehead: Underground Railroad, Lesung, 28.11., 20 Uhr, Audimax der LMU

© SZ vom 02.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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