Musik:Sirup der Sentimentalität

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Zwei alte Freunde nehmen ein Album für Umberto Eco auf - und beantworten en passant die Frage, was es mit der Erinnerung in der Musik auf sich hat.

Von Thomas Steinfeld

Im Jahr 2004 veröffentlichte Umberto Eco einen Roman mit dem Titel "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana". Er handelt von einem Mann, der sich nicht mehr an sich selbst erinnern kann. Zwar ist ihm noch sein gesamtes "papiernes" Wissen gegenwärtig: Namen, Daten, Fakten. Auch die Fähigkeit zu denken ist ihm nicht abhandengekommen. Aber sein Gedächtnis verlässt ihn, sobald es um Gefühle und Stimmungen, um Moral, Einfühlungsvermögen, Enthusiasmus oder Widerwillen geht.

In dieser Lage begibt sich der Mann, in dem sich unschwer ein Doppelgänger seines Autors erkennen lässt, zum ehemaligen Gehöft seines Großvaters, auf dem er in frühen Jahren die Sommerferien verbracht hatte. Dort will er, acht Tage lang, im freiwilligen Nachvollzug seines kindlichen, außerschulischen Bildungsgangs, wieder seiner selbst gewärtig werden.

Dieser Ort - Eco scheute vor überdeutlichen Allegorien nicht zurück - besteht aus einem weitläufigen Dachboden, in dem die unzähligen Dinge einer frühen Jugend in den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs verwahrt sind: die Bücher und Magazine, die Groschenhefte und Kakaodosen, die Zigarettenschachteln und Zeitungen, die Schallplatten und Bilder, durch die sich dem Zwölf- oder Dreizehnjährigen die Welt erschloss. Gewiss, es werden sich auch respektable Lektüren darunter befunden haben, aber sie interessieren weniger. Die "éducation sentimentale" dieses Mannes vollzog sich hauptsächlich im Volkstümlichen.

Von Walter Benjamin gibt es eine Prosaminiatur, die im Band "Einbahnstraße" aus dem Jahr 1928 enthalten ist. Darin geht es um ein "lesendes Kind", das in seinen Büchern versinkt wie in einem Schneetreiben: "Es ist viel näher unter die Gestalten gemischt als der Erwachsene. Es ist unsäglich betroffen von dem Geschehen und den gewechselten Worten, und wenn es aufsteht, ist es über und über beschneit vom Gelesenen."

Über diese Art der bildenden Lektüre sagt der Berliner Literaturwissenschaftler Magnus Klaue in einem Buch über den "poetischen Enthusiasmus" (Böhlau Verlag, 2011), sie sei nur allein zu vollziehen, ziele aber auf eine "kommunikative Erfahrung". Es gehe dabei nicht darum, sich mit dem Gelesenen zu identifizieren, sondern darum, sich damit zu "mischen". Diese Erfahrung gehört in einem besonderen Maße zum "Schmökern", zu der Art des Lesens, in der das Gegenüber von Leser und Werk, Rezeption und eigener Schöpfung aufgehoben ist oder sich noch nicht zu einem fertigen Verhältnis zur Welt verfestigt hat. Es dürften diese Erfahrungen sein, die sich im späteren Leben als die intensivsten künstlerischen Erlebnisse erweisen, und es sind solche Erfahrungen, die Umberto Ecos Held auf dem Dachboden seines Großvaters wiederholen will.

Umberto Eco starb im Februar 2016. Zwei seiner Gefährten, der Akkordeonspieler Gianni Coscia, mit dem Eco in einer mittelgroßen Stadt im Piemonte zur Schule gegangen war, und der Klarinettist Gianluigi Trovesi haben nun ein Album veröffentlicht, das nicht nur eine Art Requiem für den verlorenen Freund darstellt, sondern auch einen musikalischen Anhang zu dessen Roman "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana" bildet (ECM Records, Juni 2019).

Das ist nicht weit hergeholt. Denn das Buch enthält tatsächlich ein Kapitel, in dem es um die Radioapparate und Musikkonserven auf jenem Dachboden geht, um die beliebtesten Aufnahmen der letzten Kriegsjahre und der frühen Nachkriegszeit: um Glenn Millers "Moonlight Serenade", die das Rattern der amerikanischen Panzer auf ihrem Weg nach Norden begleitete, um das Partisanenlied "Bella Ciao", um "As Time Goes By", das Lied, bei dem auch dem unmusikalischsten Menschen Ingrid Bergman und Humphrey Bogart einfallen, um den Foxtrott "Mille lire al mese", einen der berühmtesten italienischen Schlager überhaupt. Gianni Coscia und Gianluigi Trovesi spielen nun diese kleinen Werke, allerdings nicht so, wie sie im Original klangen, sondern so, wie sie aus der Erinnerung wieder hervorgeholt werden können, unter der Bedingung, dass man damals hellhörig war und heute ein guter Musiker ist.

Musikalische Erinnerungen können niederschmetternd sein. "Was jetzt noch von der Musik übrig ist", schrieb Friedrich Nietzsche im Jahr 1872, sei "entweder Aufregungs- oder Erinnerungsmusik, d.h. entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe oder verbrauchte Nerven oder Tonmalerei". Die Endlosschleifen, in denen die beliebtesten musikalischen Werke der vergangenen fünfzig Jahre (und die großen "Hits" der klassischen Musik) heute durch den Äther oder durch die digitalen Netze zirkulieren, konnte der Philosoph nicht vorausahnen. Trotzdem hat er recht, weil diese Schleifen als systematisches Kalkül mit der Bereitschaft konzipiert sind, die Vergangenheit in einer Art standardisiertem Gefühlsbild wiederkehren zu lassen - in einem geschlossenen Gehäuse technisch reproduzierter Vergangenheit, das bis oben hin mit dem Sirup der Sentimentalität gefüllt ist.

Erinnerung besteht aber nicht aus der Wiederholung von Vergangenheit. Sie wird erst dann lebendig, wenn sie in ein Verhältnis zur Gegenwart tritt, und alles hängt davon ab, wie sie es tut - davon also, wieviel Geist und Geschmack, wieviel "Demut und Raffinesse" (Umberto Eco) sich am Erinnern beteiligen.

Gianni Coscia, der Mann, der einst Hausjurist der Sparkasse von Alessandria war, eröffnet das Album mit einer sehr persönlichen Erinnerung: Als Vierzehnjähriger hatte er eine kleine Rhapsodie für Akkordeon komponiert, zu der Umberto Eco, ein Jahr jünger, nicht nur Blockflöte gespielt, sondern auch ein eher unbeholfenes Gedicht geschrieben hatte: "Ruhiges Stagnieren abgetönter Harmonien, / hervorgebracht in mittäglichem Sonnenglast".

Wenn diese Harmonien nun wiederkehren, nach über siebzig Jahren, liegt darin nicht nur etwas eminent Musikalisches. Denn Töne sind flüchtig, sie haben keinen Bestand in Raum und Zeit, weswegen sie wiederholt werden müssen, um überhaupt in der Welt zu sein. Zugleich aber ist die Wiederholung eine Prüfung: Darin erweist sich auch, ob das, was damals "hervorgebracht" wurde, fortbestehen kann, in musikalischer wie intellektueller Hinsicht, ob es stimmig ist, in des Wortes mehrfacher Bedeutung. "Dem ,Immer neu' des Zeitflusses", sagt der Grazer Philosoph Andreas Dorschel ("Vom Erinnern in der Musik", Graz 2007), "setzt die Musik ihr ,Noch einmal' entgegen." Mehr noch: In der Erinnerung verändert sich auch das Erinnerte - was man weiß, so dass "im Wiederbringen zugleich die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen eingeschrieben" ist. Gianni Coscias Rhapsodie ist eine Etüde, die mit dieser Dialektik der Erinnerung spielt: mit dem, was war, mit dem, was nicht mehr sein kann, und mit dem Wissen um beides.

Für die meisten Menschen gehen musikalische Erinnerungen tiefer als die Spuren, die Bücher, Filme oder Bilder in Verstand und Gemüt hinterlassen. Diese Erinnerungen sind oft an die eigene Jugend gebunden, an die Zeit also, als man zwischen zwölf und achtzehn Jahre alt war. Wie tief sie gehen, merkt man etwa daran, dass man Jahrgänge daran unterscheiden kann, welche Musik sie hörten (und immer noch hören), mit feinen Trennlinien zwischen den Kinks und Cream, zwischen The Smiths und Oasis, zwischen Franz Ferdinand und den Arctic Monkeys. Oder man sieht es, wenn zuvor unauffällige Autofahrer hinter geschlossenen Scheiben plötzlich das Brüllen anfangen und dazu auf das Lenkrad einschlagen. Das liegt an der Intensität des Miterlebens, die mit der Flüchtigkeit der Ereignisse korrespondiert. Wörter und Bilder bezeichnen etwas, das außerhalb ihrer selbst liegt. Töne bezeichnen nur sich selbst. Erinnerte Töne sind wie Träume, ungreifbar, aber von großer Intensität, weswegen sie gleichsam nach außen drängen und gedeutet werden wollen, so als wären sie dann von festerer Gestalt.

Die musikalische Erinnerung ist eine weitherzige Einrichtung, und sie scheint mit zunehmendem Alter immer weitherziger zu werden. Wer in seiner Jugend ein radikaler Anhänger der Beatles war, wird irgendwann auch die Rolling Stones schätzen, was nicht nur daran liegt, dass das Gemeinsame mit wachsendem Abstand deutlicher wird, sondern auch daran, dass sich Vergangenheit eben nicht wiederholen lässt, sondern Veränderung oder sogar Verwandlung unterstellt, wenn sie Erinnerung werden soll. Anverwandeln aber lässt sich auch der "Basin Street Blues", ein Stück, das zuerst Louis Armstrong aufnahm, im Jahr 1928, und das also, als Umberto Eco und Gianni Coscia es zuerst hörten (Gianluigi Trovesi ist zehn Jahre jünger), schon einige Metamorphosen hinter sich gehabt haben dürfte. Der Blues klingt in ihrer Aufnahme sogar modern, weil sie das Arrangement bis ins Elementare zurücknehmen, weil das Akkordeon das Orchester mehr andeutet, als dass es dessen vollen Ton auszugleichen suchte, weil die Klarinette, auf behutsame Weise, ihre Tauglichkeit zum Komischen (im Schluchzen, Klappern, Kreischen) vorführt. So, als in hohem Maße reflektierte Vergangenheit, wird das Alter des Erinnerten schließlich belanglos.

Dass die musikalischen Erinnerung dem Volkstümlichen mehr zugetan ist als dem Klassischen oder Anspruchsvollen, hat im Übrigen einen Grund, den man vielleicht nur vorsichtig aussprechen sollte, der aber für den Umgang mit der Geschichte der Musik von einigem Belang ist. Denn gewiss liegt im Volkstümlichen, in der Mischung der Stile und in der Nähe zu Jahrmarkt und Jazzkeller, längst ein größeres Potenzial für die lebendige Erinnerung, als es die klassische Musik noch aufbieten könnte. Anders gesagt: Im Populären kann ein Versprechen auf Allgemeinheit erhoben werden, für das die klassische Musik immer weniger taugt, was vor allem an deren Anspruch auf "Größe" liegt. Noch anders: Im selben Maße, in dem klassische Musik trivialisiert wird, in einem Kult um Komponisten, Werke und Interpreten, der zuallererst der "Möblierung geistiger Obdachlosigkeit" (Magnus Klaue) dient, taugt sie nicht mehr zur lebendigen Erinnerung. Gianni Coscias und Gianluigi Trovesis Interpretationen zu Leoš Janáčeks kleinem Klavierzyklus "Im Nebel" (1912) sind dagegen von durchaus eigener Qualität.

Das traurigste Werk auf diesem Album ist ein munterer italienischer Schlager mit dem Titel "La Piccinina" (1939, auf Deutsch auch bekannt als "Das blonde Kätchen"). Gianni Coscia und Gianluigi Trovesi inszenieren ihn als Parabel auf das Erinnern. Immer wieder wird die Melodie aufgebaut, die Quarte im Bass rumpelt los, immer wieder trällert die Klarinette fröhlich voran. Doch es hilft nichts: Die Komposition bricht jedes Mal zusammen, bis sie auf einem einsamen, dünnen Ton auf dem Akkordeon endet. Es gibt keine Erinnerung, lehrt dieses Stück, wenn es nicht zugleich ein Vergessen gibt.

© SZ vom 05.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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