Das Projekt ist beschlossen, der erste Spatenstich kommt im Frühjahr. Das Museum of Narrative Art, das in einer Art Riesenraumschiff des Architekten Ma Yansong entsteht, ist in jeder Hinsicht ein gewaltiges Ding. George Lucas, "Star Wars"-Mogul im Ruhestand, schenkt es der Stadt Los Angeles und wird seine riesige Film- und Kunstkollektion von 2021 an dort ausstellen. Einen interessanten Nebenaspekt aber kann man schon auf der Website des Projekts studieren. Was da für eine Milliarde Dollar quasi in Stein gemeißelt wird, ist auch eine der Sprachfloskel-Moden der Gegenwart, die rund um die Idee des "Narrativen" blüht.
Narrativ hieß einmal, als bescheidenes deutsches Adjektiv, erzählend. Mehr will der Duden auch bis heute nicht gelten lassen. Das Englische akzeptiert dieselbe Buchstabenfolge auch als Substantiv. Sie gilt für alles, was erzählt wird, ist also gleichbedeutend mit Bericht oder Story, und zwar nach Auskunft der Sprachforscher von Merriam-Webster schon seit mehr als 500 Jahren. Damit war die Sache jahrhundertelang angenehm klar.
Alles begann mit den Hauptströmen der abendländischen Philosophie
Anfang der Achtzigerjahre fingen angelsächsische Geisteswissenschaftler allerdings an, das Wort "Narrativ" gehörig aufzublasen. Schuld war der Versuch, Jean-François Lyotard, den französischen Gründervater der Postmoderne, ins Englische zu übertragen. Aus dessen "grands récits" oder "Metaerzählungen" - gemeint waren die Hauptströme der abendländischen Philosophie im Gefolge Kants und Hegels - wurden dabei die "grand narratives", die es nach Lyotard zu überwinden galt.
Irgendwann fiel der erste Teil dann weg, das Narrativ war jetzt per se groß. Nicht mehr irgendeine Erzählung, sondern mindestens eine sinnstiftende Herkunfts- oder Entwicklungsgeschichte, ohne die eine Gemeinschaft nicht existieren kann. Als solche schlich sich das Wort dann auch ins Deutsche ein, zum Beispiel gilt etwa "Liberté, Égalité, Fraternité" als "Narrativ der Französischen Revolution". Inzwischen ist das Wort auch im Alltagsgebrauch angekommen.
Klarer wird es dadurch nicht. Was bedeutet beispielsweise die Forderung, die Europäische Gemeinschaft brauche "dringend ein neues Narrativ"? In jüngster Zeit hat der Bedarf nach erzählter Sinnstiftung offenbar noch einmal drastisch zugenommen. Ständig werden die "Narrative" des Weißen Hauses, die natürlich nicht stimmen müssen, entweder geglaubt oder zurückgewiesen oder gar dekonstruiert; beim Börsenkurs der Firma Pfizer warnt der Aktien-Check aufgeregt, "Narrativ könnte sich ändern!"; in Kreativmeetings der Werbebranche gibt es bald kein Produkt mehr, an dessen Narrativ nicht dringend herumgebastelt werden muss. Das Produkt als Erzählung, und die Erzählung destilliert in einem Produkt. In Deutschland hat zum Beispiel die Supermarktkette Edeka vorgemacht, wie das aussehen kann. Mit einem rührseligen Spot über einen einsamen Großvater allein am Weihnachtstisch, der erst seinen Tod vortäuschen muss, damit die Familie mal wieder zum Feiertagsessen zusammenkommt. Eines der eindrücklichsten Beispiele stammt von der Firma Anheuser-Busch, die für den Super Bowl einen 60-sekündigen Spot produzieren ließ, das ihr Budweiser-Bier mit der Lebensgeschichte des deutschen Firmenmitgründers Adolphus Busch melodramatisch verbindet. Der Clip zeigt seine beschwerliche Reise in die USA, Schiffbruch, die ersten Jahre als Flüchtling in der Fremde, immer mit der Mission vor Augen, ein großartiges Getränk zu brauen. Wer sich eine Budweiser-Flasche aufmacht, soll nicht mehr nur ein Bier trinken, sondern den amerikanischen Traum gleich mit, vom Einwandererland, in dem alles möglich ist - sozusagen ein Gründermythos mit Schaum oben drauf.
Wenn George Lucas nun ein Riesenmuseum für "Narrative Art" konstruiert, führt er das Problem gewissermaßen dorthin zurück, wo es herkommt, nämlich zur Kunst des Erzählens, mit der ja doch eigentlich alles begann. "Narrative Kunst ist so alt wie die Menschheit selbst", heißt es auf der Website. Dem kann man schlecht widersprechen, sehr viel seltsamer erscheint aber ein anderer zentraler Satz: "Narrative Kunst ist eine visuelle Kunst, die eine Geschichte erzählt."
Wieso denn bitte nur visuell? Weil früher mal ein Nebenzweig der Fotokunst "Narrative Art" genannt wurde, was der Duden noch weiß, sonst aber praktisch niemand mehr? Oder weil George Lucas vor allem Bilder, Filmschnipsel und Filmrequisiten gesammelt hat, darunter amerikanische Maler von Rockwell bis Wyeth? Offenbar will der Hobby-Kurator alles aus seinem Museum verbannen, was nicht irgendwie bebildert ist - und prompt steht man vor der Frage, warum zum Beispiel die Literatur in seinen Augen als "erzählende Kunstform" disqualifiziert sein soll. Dass Bücher keine Geschichten erzählen, würde ja selbst der irrste Filmemacher nicht behaupten.
Spätestens hier wird es absurd, aber auch symptomatisch. Der ganze Sprachkomplex des "Narrativen" ist inzwischen so überstrapaziert und ausgehöhlt, das jeder damit scheinbar machen kann, was er will. Schaut man allerdings genauer auf seine Grundlagen, wirkt diese Konfusion vollkommen einleuchtend. Ihre maximale Ausdehnung hat die Idee des Narrativs aber noch gar nicht erreicht. Denn nimmt man den Begriff der "narrativen Künste" ernst, muss man natürlich auch definieren, wann Künste "nicht-narrativ" sein sollen. In den engen Grenzen der Erzähltheorie mag das noch gehen, darüber hinaus aber kommt man schnell in Schwierigkeiten. Die Werke der Architektur zum Beispiel, erzählen die keine Geschichten? Aber sicher doch, und zwar jeder einzelne Backstein, würden die Denker dieser Disziplin antworten - und auf Schlüsselbegriffe wie die "Architecture parlante", die sprechende Architektur nach Claude-Nicolas Ledoux, verweisen.
Okay, aber was ist mit der Musik? Zwar könnte man behaupten, dass Tonfolgen wirklich nur für sich selbst stehen und also keine Geschichten erzählen - aber auch da fällt den Experten dann schnell eine Bach-Fuge ein, in der zwei Themen erst eingeführt werden, dann alsbald um die Vorherrschaft ringen, bis schließlich im Finale ein Motiv über dem anderen liegt und obsiegt. Von Stimmungen, Tonarten, Tempi und ihren Entwicklungen ganz zu schweigen. Selbst Musiker, die sich dem abstraktesten Jazz verschrieben haben, würden jederzeit schwören, dass sie ihr Instrument gar nicht erst zur Hand zu nehmen bräuchten, wenn sie damit keine Geschichten zu erzählen hätten.
Die Geschichte des ganzen Universums müsste für eine Milliarde Dollar zu haben sein
Andere Abzweigungen auf der Suche nach dem Nicht-Narrativen führen ebenfalls schnell ins Abseits. Was ist zum Beispiel mit Bildern, die man ohne jeden Zusammenhang in eine Abfolge bringt, schließt das eine Erzählung nicht aus? Nein. Seit den Moskauer Experimenten Lew Kuleschows weiß man, dass das menschliche Gehirn sich daraus sofort seine eigenen Zusammenhänge und damit auch seine eigene Geschichten konstruiert. Unser Gehirn ist die größte Narrationsmaschine überhaupt, und die eingebaute Funktion der erzählerischen Sinnstiftung, über die es verfügt, ist im Prinzip auch nicht abschaltbar. Selbst von Einzelbildern, die keine zeitliche Dimension haben, sagt man ja nicht umsonst, sie erzählten oft mehr als tausend Worte.
Die Künste, so scheint es, können dem Narrativen in jeglicher Ausprägung kaum entkommen. Aber man kann diesen Gedanken auch noch weiterspinnen. Gilt dasselbe nicht eigentlich auch für Menschenleben? Für das Wachsen und Absterben in der Natur, ja selbst für das Werden und Vergehen von Sonnensystemen? Wo immer Worte, Bilder oder Töne aufeinanderfolgen, wo immer gelebt und gestorben wird, formen unsere inneren Narrationsmaschinen Erzählungen, Geschichten, Entwicklungen, Lebenslinien.
Dieser wahrhaft umfassende Zugriff im Begriff des Narrativen ist es, der seinen modischen Gebrauch einerseits bedingt, aber andererseits nach schärferen Definitionen verlangt. Sonst sagt man im Grunde nicht mehr, als dass wir in einem unendlichen Strom von Geschichten leben, immer schon, und ein paar davon auch noch mal anders erzählen könnten. Geschenkt.
Würde George Lucas sein Museum umfassend verstehen, müsste es weit mehr als nur die Literatur einschließen. Es könnte im Grunde die ganze Geschichte des Universums erzählen. Und für eine Milliarde Dollar sollte das eigentlich auch drin sein.
Ein Gegenmuseum ist dennoch denkbar. Man könnte es das "Museum of Randomness" nennen. Dort hätten ausschließlich Artefakte ihre Heimat, die durch reinen Zufall entstehen und den Zufall abbilden. Ein Bildschirm mit elektronischem, nicht enden wollendem Schneegestöber, ein Computer, dessen Algorithmus absolut zufällige Zeichenfolgen ausspuckt, ein Endlos-Tonband mit weißem Rauschen. Dieses Museum wäre der einzige Ort, wo man ewig verweilen könnte und doch immer nur auf eine einzige Geschichte stößt - die Geschichte der Gleichförmigkeit.