Mittelschicht, West:Aufstieg geschafft, Underdog geblieben

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Daniela Dröscher: Zeige deine Klasse: Die Geschichte meiner sozialen Herkunft. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2018. 250 Seiten, 15,99 Euro. (Foto: N/A)

Daniela Dröscher zeigt ihre Klasse und überwindet schreibend die Scham der Herkunft.

Von Verena Mayer

Eines der kuriosesten Phänomene ist das Revival der "Klasse". Hatte der Begriff spätestens nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ausgedient und fand höchstens noch auf Flugblättern linker Initiativen statt, so ist er gerade wieder allgegenwärtig. Und zwar nicht ironisch oder retro-cool, so wie man in Berlin-Mitte eine alte Fellmütze aus der Sowjetarmee aufsetzt. Nein, selbst in der Wissenschaft wirft man vollkommen ernsthaft mit Kategorien wie "Arbeiterklasse", "Klassenfrage", ja selbst "Klassenkampf" um sich.

Woher diese Faszination kommt, ist schwer zu sagen. Vermutlich hat es mit dem Begriff des "Klassismus" zu tun, der seit einiger Zeit in den Sozialwissenschaften schwer angesagt ist. Dass also nicht nur Rassismus oder Sexismus Gründe sein können, warum Menschen diskriminiert werden, sondern auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht. Und über den Umweg der Ausgrenzungserfahrung fand wohl auch die Klasse selbst ihren Weg zurück in die Theorie.

Klar dürfte jedoch sein, wer den aktuellen Hype ausgelöst hat. Der französische Soziologe Didier Eribon nämlich, der in seinem Buch "Rückkehr nach Reims" nachgezeichnet hat, was aus der einstmals stolzen französischen Arbeiterklasse wurde, der er selbst entstammt. Wie sie sich durch eine zunehmend nach neoliberalen Prinzipien organisierte Gesellschaft immer mehr von dieser ausgegrenzt fühlte, bis sie ihr Klassenbewusstsein verlor und sich nur mehr von einer rechtspopulistischen Partei wie dem Front National vertreten fand. Als Eribons Text 2016 auf Deutsch erschien, wurde er als die lange vermisste Erklärung gelesen, warum eine Partei wie die AfD so groß werden konnte.

Didier Eribon ist dann auch so etwas wie der Hausgott der autobiografischen Erzählung der Schriftstellerin Daniela Dröscher, die den Kampfbegriff schon im Titel trägt: "Zeige deine Klasse" lautet er. Wie Eribon fächert Dröscher die Bedeutung von sozialer Herkunft anhand ihres eigenen Lebens auf. Das beginnt in einem kleinen Dorf in Rheinland-Pfalz, wo Dröscher 1977 als Kind eines Maschinentechnikers und einer Fremdsprachenkorrespondentin geboren wird. Die Eltern sind nicht reich, wollen ihrem Kind aber vom Klavierunterricht bis zum Studium alles bieten, was sie selbst als Nachkriegskinder entbehren mussten. Sie haben keine höhere Bildung, legen aber großen Wert auf das Fortkommen ihrer Tochter, schicken sie erst auf ein Gymnasium in der nächsten Kleinstadt, dann auf das Internat einer evangelischen Privatschule. Spätestens, wenn es darum geht, dass die Familie sonntags zum Gottesdienst geht, bei den Verwandten Buttercremetorte isst und abends "Tatort" schaut, fragt man sich, was nun eigentlich das Problem sein soll, zumal Dröscher selbst im Vorwort zugibt: "Kaum etwas ist so langweilig wie die westdeutsche Mittelklassenrealität."

"Kaum etwas ist so langweilig wie die westdeutsche Mittelklassenrealität."

Dass man dennoch gebannt durch das Schlüsselloch dieses Durchschnittshaushalts in der Provinz guckt, liegt an Dröschers Sinn für das banale Detail. Dröscher beschreibt, wie sich ihre Freundin Betty vom Bauernhof gegenüber für den Blutgeruch schämt, der nach dem Schlachten in ihren Kleidern hängt, oder wie peinlich ihr selbst ihr Dialekt ist, an dem man ihre dörfliche Herkunft ablesen kann, auf dem Gymnasium trainiert sie ihn sich mühevoll ab. Dröscher zählt auf, welchen Cliquen sie als Teenager nicht angehören konnte, welche Texte sie sich an der Universität erst aneignen musste und zwischen welchen Orten sich ihre Eltern und Großeltern bewegten.

Aus all diesen Nebensächlichkeiten, die Dröscher mit genauem, manchmal fast gnadenlosem Blick protokolliert, werden die Verwerfungen in dieser westdeutschen Idylle spürbar. Die Großeltern mütterlicherseits waren als Aussiedlerfamilie aus Polen nach Deutschland gekommen, weshalb sie im Dorf noch Generationen später als Fremde wahrgenommen wurden. Der Vater machte zwar den Job eines Ingenieurs, eine höhere Position bekam er in seinem Betrieb aber nicht, weil die den Söhnen des Firmenbesitzers vorbehalten waren. So setzt sich das Bild eines Milieus zusammen, das zwar den Aufstieg schafft, der herrschenden Klasse, um in der Begrifflichkeit zu bleiben, aber immer unterlegen sein wird.

Dröscher, die in Trier und London studiert und an der Universität Potsdam in Medienwissenschaft promoviert hat, reflektiert die aktuelle Literatur zu Themen wie Postmigration und Intersektionalität genauso, wie sie ihre Kenntnisse der Popkultur einfließen lässt oder Bourdieus "Feine Unterschiede", die mit der Wiederentdeckung des Klassenbegriffs unweigerlich mithervorgespült wurden. Dröscher tut das in kurzen, kursiv gesetzten Zitaten oder in vielen Fußnoten, was einerseits ihre These untermauert, dass soziale Aufsteiger dazu neigen, ihr Wissen herauszustreichen, um anerkannt zu werden. Andererseits hat das etwas angenehm Diskretes, das Platz für Fragen lässt. Ob ein Kind wie sie heutzutage auch so weit käme? Würden ihre Eltern überhaupt versuchen, ihr den Aufstieg ins Bildungsbürgertum zu ermöglichen oder würden sie sich in einer Gesellschaft, in der Stadt und Land, Arm und Reich immer weiter auseinanderdriften, einfach nur abgehängt fühlen? Dröschers Text erzählt auch von einer Gesellschaft, die in den Siebzigerjahren vom sozialdemokratischen Ideal der Chancengleichheit geformt wurde. Und welches Loch der Niedergang der Sozialdemokratie möglicherweise gerissen hat.

Anders als Didier Eribon versucht sich Dröscher aber nicht in einer politischen Deutung. Weder spekuliert sie, warum die Gegenwart so ist, wie sie ist, noch maßt sie sich an, von sich auf das bundesdeutsche Kollektiv zu schließen, schon allein deshalb, weil ihre Perspektive die ostdeutsche nicht einschließen würde. "Alles, was ich habe, ist meine Subjektivität", schreibt sie. Ihre Botschaft findet sie in der Form. Dröschers Memoir, wie man das Genre neuerdings nennt, ist eine Sammlung der unterschiedlichsten literarischen Formen. Wenn sie erzählt, klingt das mal wissenschaftlich, mal märchenhaft, manche Passagen haben etwas von konkreter Poesie. Ihre Aneignung von sozialem Status ist nicht zuletzt eine Aneignung von sprachlichen Mitteln. Und so ist "Zeige deine Klasse" vor allem eine Geschichte des Schreibens. Darüber, dass es keiner besonders großen Traumata bedarf, um von einer inneren Not zum Schreiben getrieben zu werden. Darüber, dass es auf der Welt immer soziale Grenzen geben wird. Und dass es die Sprache ist, mit denen sich die Grenzen der Welt vielleicht einreißen lassen.

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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