"Mittelalte Männer":Torten ins Gesicht

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Richard Russo lehrte einst selbst an Colleges in der akademischen Provinz. (Foto: Elena Seibert/DuMont)

Schon 1997 wurde genderkorrekt gesprochen: Richard Russos "Mittealte Männer" ist eine Zeitreise mit Slapstick-Elementen.

Von Martin Ebel

Wenn ein US-Autor heute einen Campus-Roman schriebe, käme der wohl nicht ohne einen Skandal aus, in dessen Zentrum ein Starprofessor steht, der wegen sprachlichen "Fehlverhaltens" mit Shitstorm und Pranger bestraft und vermutlich entlassen wird. Richard Russos "Mittelalte Männer" ist ein Campus-Roman ohne die genannten Skandal-Ingredienzien - das englische Original stammt schließlich aus dem Jahr 1997, und da ging es an dem College der fiktiven Kleinstadt Railston, Pennsylvania, vergleichsweise friedlich zu. Zwar gibt es schon ein "Sexuelle-Belästigungs-Komitee" und sogar einen Dozenten, der auf genderkorrekten Sprachgebrauch pocht: Wann immer in einer Sitzung das männliche Pronomen gebraucht wird, fügt er ein "oder sie" hinzu. Weshalb er mit dem Spitznamen "Odersie" bedacht wird.

Harmlose Zeiten waren das, 24 Jahre vor unseren Tagen, in denen auch an hiesigen Universitäten das Gendern zur Vorschrift geworden ist, zum Schibboleth - es trennt Gut und Böse, Freund und Feind; was inklusiv gemeint war, bewirkt Ausgrenzung. Der genannte "Odersie" im Roman ist übrigens spezialisiert auf die Analyse von TV-Sitcoms, weil er Bücher für "phallozentrisch" hält. Seine Studenten dürfen ihre Essays nicht in Schriftform, sondern nur als Videokassetten abgeben. Eine zukunftsträchtige Figur.

Auch in einem anderen Punkt lässt Russos Campus-Welt weit vorausblicken: Die Wissenschaftler haben sich in den Schutzräumen ihrer Methoden verbarrikadiert - heute würden wir sie "Filterblasen" nennen - und kein Interesse mehr an Austausch und Debatte. Die Studenten lernen das Argumentieren dann auch nicht mehr: "Wenn ihre Professorinnen und Professoren - ob Feministinnen, Marxisten, Historismusvertreter oder andere Gruppen von Theoretikern - misstrauischen, geschlossenen intellektuellen Zirkeln angehören, denen es weniger daran gelegen ist, miteinander zu reden, als ihr Revier abzustecken und ihre eigene Agenda zu verfolgen, warum sollten sie dann das Debattieren erlernen?"

So muss William Henry Devereaux jr., genannt Hank, Leiter des anglistischen Fachbereichs an der "West Central Pennsylvania University" und Ich-Erzähler des Romans, seufzend feststellen: Das College ist (höchstens) zweitklassig, das Kollegium heillos zerstritten. Die Dozenten sind mittelmäßig und rekrutieren Mittelmaß: "Jemand Hochkarätigen einzustellen hieße, Vergleichen mit uns, die wir nicht hochkarätig waren, Tür und Tor zu öffnen." Die Studenten sind unbegabt, faul oder beides, dazu fordernd und streitsüchtig. All diese Befunde haben Hank aber nicht zum Zyniker gemacht, sondern zum fröhlichen Anarchisten. Nichts bereitet ihm mehr Freude, als Sand ins Verwaltungsgetriebe zu streuen, Chaos zu verbreiten und mit überraschenden Repliken seine Kollegen zu provozieren, zeitgemäß formuliert: ihre Gefühle zu verletzen.

Nicht pinkeln zu können, ist nicht lustig, darüber zu lesen hingegen schon

Hank kennt all ihre Schmerzpunkte und drückt gern auf ihnen herum. Bei Gracie DuBois ist es etwa der (erfolglose) Lyrikband, auf den sie so stolz ist. Vor Wut schlägt sie nach Hank mit einem Notizblock, dessen oberes Spiralende sich in seine Nase bohrt, die darauf unmäßig anschwillt: ein physischer Schmerzpunkt. Hank zieht sich eine Scherznase darüber und verblüfft so verfremdet ein zufällig anwesendes Team des Lokalfernsehens: Er packt am Teich des Campus eine der herumwatschelnden Gänse am Hals und droht, täglich einen Vogel umzubringen, bis er endlich sein Budget bekommt.

Der Auftritt kommt natürlich nicht nur im Lokalfernsehen, sondern auch landesweit in "Good Morning America" und macht Hank zur Hassfigur von Tierschützern, aber auch zum Helden des von Kürzungen bedrohten Fachbereichs. Natürlich nur vorübergehend, denn eigentlich vermuten die Kollegen, dass er für den Dekan längst eine Liste der verzichtbaren Dozenten erstellt hat.

Richard Russo: Mittelalte Männer. Roman. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont, Köln 2021. 604 Seiten, 26 Euro. (Foto: DuMont Verlag)

Zwar hält Hank tatsächlich viele für verzichtbar, aber für eine solche Liste gibt er sich nicht her. Da er die Zweifel an sich jedoch bewusst nicht ausräumt, setzen ihn die Kollegen als Fachbereichsleiter ab - in einer Sitzung, der er von einem Hohlraum in der Decke aus heimlich beiwohnt. Dorthin war er geflüchtet, nachdem er sich im Schlaf eingepinkelt hatte - Hanks Harnstau gehört zu den Running Gags der Handlung.

Nicht pinkeln zu können, ist nicht lustig, darüber zu lesen hingegen schon. Hank erzählt von den Treffern, die er bei seiner Mitwelt landet, ebenso wie von seinen Missgeschicken, als führe er einen Laurel & Hardy-Stummfilm vor, in dem ständig jemand ausrutscht oder Torten ins Gesicht bekommt. Es ist seine Methode, der Langeweile der akademischen Provinz zu entfliehen, aber auch dem, was eine tiefere Selbstbefragung zutage fördern würde. Bestehe "der Zweck geistiger Kultiviertheit nicht zuletzt darin, Distanz zwischen uns und unsere beunruhigendsten Erkenntnisse und nagendste Ängste zu schaffen"?

Hinter dem Slapstick verbirgt sich eine tiefe Melancholie

Hinter dem Slapstick verbirgt sich, wie im klassischen Stummfilm, eine tiefe Melancholie. Und dahinter wiederum das nicht minder tiefe Einverständnis mit dem Leben als große Flickschusterei, in dem man, wenn schon nichts passiert, selbst für ein bisschen Unterhaltung sorgen muss - und sei es durch gezieltes Chaos.

Richard Russo hat einst selbst an mehreren Provinz-Colleges unterrichtet, sein Railston ist der Kleinstadt Altoona in Pennsylvania nachempfunden, die ebenfalls einst als Eisenbahnknotenpunkt aufblühte und dann in Depression versank. Russo-Leser kennen solche ausgepowerten Kleinstädte und ihre Bewohner, die die Chancen nutzen, die sie längst nicht mehr haben, aus seinen großen Romanen wie "Nobody's Fool" oder "Empire Falls". Die Verfilmung des Ersteren hat Russo die finanzielle Unabhängigkeit eingebracht, der zweite 2002 den Pulitzer-Preis.

Erst mit großer Verspätung hat sein Werk nach und nach durch sorgfältige Betreuung durch den Dumont-Verlag den Weg zum deutschen Leserpublikum gefunden. Die Übersetzung von Monika Köpfer liest sich flüssig, wenn auch manche Pointe, mancher "esprit de repartie" etwas schwerfällig daher kommt. Den zeitlichen Abstand zwischen Original und Übersetzung erkennt man leicht amüsiert an den Verrenkungen, die zwischen dem korrekten "Studenten" und dem politisch korrekten "Studierenden" vollzogen wird, mal heißt es so, mal so. Ebenso treffen wir auf "Demonstranten", "Protestierende" und "Demonstrierende" - was Hank, verstünde er Deutsch, sicher zu einem Bonmot inspiriert hätte. Aber solch verlegene Zugeständnisse an den Zeitgeist vermindern das Vergnügen an diesem vielleicht etwas zu langen, aber durchgängig witzigen, lebensklugen und menschenfreundlichen Roman kein bisschen.

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