Mediaplayer: "India Song":Phantome und ihre Sprache der Liebe

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Delphine Seyrig und Didier Flamand in "India Song". (Foto: imago images/Prod.DB)

Mit ihrem Film "India Song" von 1975 ließ Marguerite Duras das Erzählkino hinter sich und filmte die Atmosphäre des dekadenten Kolonialismus.

Von Fritz Göttler

Der Duft der Blumen, die Hitze, der Monsun, Monotonie und Stagnation. Eine Soiree in der französischen Botschaft von Kalkutta, im Jahr 1937, die Wirklichkeit Indiens ist ausgeschlossen, Lepra und Hunger. Immer wieder setzt betörende Tango- und Slow-Fox-Musik von Carlos d'Alessio ein, dazwischen ein paar Passagen aus Beethovens Diabelli-Variationen. Die Menschen sind wie Spielfiguren, somnambul, gehalten von einer unbekannten Mechanik.

Im Mittelpunkt des Abends steht Anne-Marie Stretter, die Frau des Botschafters. Verkörpert von Delphine Seyrig, die in "India Song" von Marguerite Duras als einer der geheimnisvollsten Redheads der Kinogeschichte erscheint. Sie hat ein paar Männer um sich, die sich versuchsweise der Elemente einer Sprache der Liebe bedienen. Manchmal liegen sie apathisch auf dem Boden, nebeneinander ausgestreckt, Gefangene der Erinnerungen und des Leidens. Anne-Marie Stretter befeuerte Anfang der Siebziger die Imagination der Marguerite Duras, sie taucht in diversen Büchern und Filmen auf. Das Script von "India Song" hatte für die Soiree zunächst jede Menge Statisten vorgesehen, am Ende sind davon nur Anne-Marie und ihre Männer geblieben, der small talk, in dem es ihre Lieben und ihren Tod wenige Stunden nach der Soiree geht, findet allein im Off statt.

Duras war ein Erfolgsname damals, mehrere ihrer Romane waren verfilmt worden, mit Jean-Paul Belmondo oder Romy Schneider, sie hatte das Script zu "Hiroshima mon amour" für Alain Resnais geschrieben, amerikanische Produktionsfirmen gaben Drehbücher in Auftrag. Mit "India Song" hat sie sich freigemacht für ein neues Kino, das vom Tod des Erzählens zeugt, dem Ende der klassischen Action. "India Song" lief 1975 außerhalb des Wettbewerbs in Cannes. Im Jahr darauf sorgte "Taxi Driver", der auf andere Weise das Erzählkino auseinandernahm, dort für Furore.

Auch das Kino wurde im Zeitalter des Kolonialismus geboren

"India Song", sagt Duras, das sind meine Phantome, meine Fantasien. Ihre Vision vom französischen Kolonialismus, seinen überlebten Ritualen, seinen Psychosen. Duras ist in Indochina geboren, außerhalb jener mondänen Gesellschaft, die "India Song" bevölkert, und der Film thematisiert diese Spannung von Innen und Außen. Die Menschen der Botschaft schotten sich ab von der Wirklichkeit wie die feudale Gesellschaft in Poes "Die Maske des roten Todes". 1937, das vermerkt der Film sehr wohl, griff Japan China an, in Russland wurde die Revolution verraten. "India Song" ist auch ein Film über das Kino, das im Zeitalter des Kolonialismus geboren wurde. Die herrschaftlichen Kolonialgebäude sind im Verfall. Der große Saal der Botschaft hat auf einer Seite einen gewaltigen Spiegel, der Geräumigkeit suggeriert, aber immer wenn die Figuren, die man im darin sich bewegen sieht, davor auftauchen, stockt einem der Atem, so eng ist der Raum plötzlich geworden. Der Tod steckte im Script, sagt Duras, in der Kamera.

Sicher hat "India Song" viel mit den Erschütterungen von 1968 zu tun, als die Identitäten in Frage gestellt wurden, die gesellschaftlichen und die individuellen. Von den alten Sicherheiten bleiben Schatten, die neuen Rollenbilder wirken, gerade was die Frauen betrifft, wie Schimären.

Was erzählt wird während der Soiree, wird immer wieder skandiert durch ein beiläufiges Ja, oder ein "So ist es". Auch die Stimme von Duras ist dabei, ein raues Raunen klingt darin an, und man spürt wie die Bilder und die Musik den Sätzen ihre Sicherheit rauben. Die einzige Figur, von der noch Energie ausgeht, ist der Vizekonsul von Lahore, gespielt von Michael Lonsdale. Anne-Marie Stretter ist das Objekt seiner Begierde. Von all den Männern um Stretter hat er den steifsten Gang, mit zusammengekniffenen Beinen verschwindet er in der Nacht, seine Schreie sind den Rest des Films über zu hören. Es sind schreckliche, im Kino bis dahin ungehörte Schreie.

Was schreit er, fragt eine Stimme, und Duras gibt die Antwort: Anna Maria Guardi, so hieß Anne-Marie in ihrer ersten Ehe, "son nom de Venise dans le Calcutta desert", ihr Name aus Venedig im verlassenen Kalkutta. Er wird Duras über diesen Film hinaus verfolgen.

"India Song" ist bis Ende November in der arte Mediathek zu sehen .

© SZ vom 19.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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