Klassik:Herr, bin ich's?

Lesezeit: 3 min

Der Dirigent Raphael Pichon. (Foto: PR)

Der französische Dirigent Raphael Pichon hat wie viee seiner Kollegen vor ihm Bachs "Matthäuspassion" neu aufgenommen. Was ist so besonders an diesem Werk?

Von Helmut Mauró

Ganz am Ende, wenn alles vorbei ist, der Schrecken des Verrats, der Folter, der Hinrichtung des Unschuldigen, kommen noch einmal die Pharisäer zu Wort, aber dann beruhigt in Johann Sebastian Bachs Vertonung der Passionsgeschichte nach dem Matthäus-Evangelium der Chor die Gemüter: "Nun ist der Herr zur Ruh' gebracht." Und schickt noch, stellvertretend für alle anwesenden Mitleidenden, einen persönlichen Abschied hinterher: "Mein Jesu, gute Nacht!" Aber das reicht nicht, der Chor erhebt sich ein letztes Mal lautstark und versichert: "Wir setzen uns mit Tränen nieder." Spätestens an dieser Stelle sieht man auch im Konzertsaal, wohin dieses dreistündige Riesenwerk in den letzten zweihundert Jahren allmählich aus der Kirche hingewandert ist, ein paar Tränen fließen.

Seit der junge Felix Mendelssohn Bartholdy von seiner Großmutter die originalen Noten der Bach'schen "Matthäuspassion" geschenkt bekam und 1829 in einer auf die Hälfte gekürzten Fassung mit der Berliner Singakademie aufführte, hat sich eine Aufführungstradition entwickelt, die ihresgleichen sucht. Heute ist dieses Stück, noch vor Beethovens Neunter oder Händels "Messias", das Kernstück abendländischer Musik, vielleicht sogar abendländischer Kultur überhaupt. Die ziemlich wechselvolle Rezeptionsgeschichte zeigt das Ringen um Wirkung und Bedeutung. Striche, Uminstrumentierungen, ja sogar Textänderungen waren an der Tagesordnung.

Bachs Passion ist weder Musiktheater noch irgendeine Art von Schauspiel

Man hat die vielen reflektierenden Einschübe auf Grundlage pietistischer Dichtungen als störend empfunden. Singakademie-Leiter Carl Friedrich Zelter schrieb an seinen Freund Goethe über die "zerstreute Handlung", der Komponist Ferruccio Busoni konzipierte 1921 eine szenische Umsetzung, bei der die Arien gestrichen werden sollten, weil sie die Handlung aufhielten. Es gab Drehbücher und Bühnenbildskizzen, aber von den vielen Ideen schaffte es erst John Neumeiers Ballettversion von 1981 auf die Bühne. Sie war Höhepunkt und Ende eines fundamentalen Missverständnisses. Denn Bachs "Matthäuspassion" ist weder Musiktheater noch irgendeine Art von Schauspiel. Es geht nicht um die Vorführung von Kunst, sondern darum, das Publikum emotional zu packen und einer gründlichen Gehirnwäsche zu unterziehen, die etwas zufriedenere und sozial verträglichere Menschen hervorbringt. Das geschieht auf der Grundlage des religiösen Textes sowie neuer Dichtungen, die den Zuhörer einbinden, indem sie dessen Gefühlsreaktionen auf die Leidensgeschichte Jesu verstärken und moralisch verallgemeinern.

Die didaktische Bandbreite reicht dabei von recht schwarzer Pädagogik im Bass-Rezitativ "Ja freilich will in uns das Fleisch und Blut zum Kreuz gezwungen sein" bis zur kindlichen Vertrauensseligkeit in der unmittelbar folgenden Arie "Wird mir mein Leiden einst zu schwer, so hilfst du mir es selber tragen". Es ist wichtig, dass dies ein gestandener Bass singt und kein Kind, wenn sich die Gemeinde damit identifizieren soll. Obgleich eine der bis heute wegweisenden Aufnahmen der "Matthäuspassion" und auch der "Johannespassion" unter Leitung von David Willcocks, Hans Gillesberger und Nikolaus Harnoncourt damit glänzen, dass sie in einigen Arien mit Solisten der Wiener Sängerknaben aufwarten, wie man sie bis dahin nicht und seitdem nie wieder in dieser Qualität und Intensität gehört hat.

Konzentration auf die musikalischen Mittel: Raphael Pichons Neuaufnahme der "Matthäuspassion" mit dem Chor- und Instrumentalensemble "Pygmalion". (Foto: N/A)

Nun hat der französische Dirigent Raphael Pichon mit seinem Chor- und Instrumentalensemble "Pygmalion" eine Neuaufnahme vorgelegt (harmonia mundi), die zunächst durch ihr angenehm zügiges Tempo und seine Unaufgeregtheit besticht. Während die Einspielungen der vergangenen Jahrzehnte darin konkurrierten, den originalsten Instrumentalklang zu erreichen oder die plakativste Dramatik, bis hin zum musikalischen Schmierentheater, konzentriert sich Pichon auf die Möglichkeiten der musikalischen Mittel. Dabei scheint es mitunter sogar vorteilhaft zu sein, sich dem gesungenen Text als Nichtmuttersprachler zu nähern. Denn dies bedeutet, im Zweifel nicht den gesprochenen, sondern den vertonten Wortklang in den Vordergrund zu stellen.

Alle Mittel dienen hier nur einem Zweck: der Erhebung des Menschen durch die Kunst

Bei guten Komponisten ist der Unterschied nicht sehr groß, wie man bei Bachs sprachvertonendem Wegbereiter Heinrich Schütz wunderbar studieren kann, dennoch ist der Unterschied von generell theatralischer Auffassung und sprachorientierter Klangdramatik fundamental. Mehr als Schütz verleitet allerdings Bach, dem gemeinhin ein eher sprödes Image anhaftet, zu dramatischer Aufladung und Übertreibung durch die Aufführenden. Dabei muss man selbst auf der Ebene der erzählerischen Darstellung nichts plastischer gestalten, als es musikalisch schon angelegt ist. Wenn es zum Beispiel in einer Schlüsselszene um den Verrat an der römischen Besatzungsmacht geht, muss man die Reaktion der Jünger - "Herr, bin ich's?" - nicht herausbrüllen, im Gegenteil. Erst wenn es so ängstlich verschüchtert vorgebracht wird wie in Pichons Einspielung, entfaltet der Schrecken seine tiefe Wirkung. Dabei bleiben noch immer genügend interpretatorische Möglichkeiten. Willcocks etwa ließ die einzelnen Stimmgruppen erschrocken herausplatzen, individualisiert dabei den Chor zu singulären Charakteren, die sich nicht mehr unsichtbar in der Gemeinschaft verlieren können.

In jedem Detail dieses Werkes steckt ein ganzer Kosmos an Möglichkeiten, ob man dabei nach Zahlensymbolik sucht, nach musikalischer Metaphernsprache oder handwerklichen Raffinessen. Dazu muss man nicht immer Fachmann sein. Dass von den "falschen Zeugen" ein Falsettist singt, also ein falscher Sopran, leuchtet ein. Und doch dienen alle kunstvollen Mittel hier nur einem Zweck: der Erhebung des Menschen, wie man das damals pathetisch sagte, durch die Kunst. In Zeiten, in denen gute Kunst allerdings nur von guten Menschen hervorgebracht werden kann, wird das schwieriger. Gut, dass wir von Bachs Privatleben so gut wie nichts wissen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: