Marylène Patou-Mathis' Buch "Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann":Steinzeitmythen

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Könnten nicht auch Frauen die Malereien von Lascaux angefertigt, Werkzeuge geschnitzt und Bisons gejagt haben? 16 000 Jahre alte Wandmalereien in der Höhle von Lascaux im Südwesten Frankreichs. (Foto: Pierre Andrieu/AFP)

Die Frühhistorikerin Marylène Patou-Mathis bezweifelt, dass unsere Vorfahren in patriarchalen Strukturen lebten. Was bedeutet das für die feministische Debatte heute?

Von Niklas Elsenbruch

"Nein! Die prähistorischen Frauen haben ihre Zeit nicht damit verbracht, die Höhle zu fegen!" Marylène Patou-Mathis eröffnet ihr Buch "Weibliche Unsichtbarkeit" mit einer Kampfansage. Die französische Ur- und Frühhistorikerin wirft der 170-jährigen, von männlichen Forschern dominierten Geschichte ihres Fachs die haltlose Annahme einer weiblichen Unterordnung seit der Altsteinzeit vor. Stattdessen will sie wissen: Könnten nicht auch Frauen "die Malereien von Lascaux angefertigt, Bisons gejagt, Werkzeuge geschnitzt, Erfindungen gemacht und zu gesellschaftlichem Fortschritt beigetragen haben?"

Die Beweislage hierfür ist, um dies vorwegzunehmen, nicht erdrückend. Doch Patou-Mathis stellt klar: Indizien einer männlichen Vorherrschaft sind gleichfalls rar gesät. Dass die Urhistorik von einer patriarchalen Struktur steinzeitlicher Sozialverbünde ausgegangen ist und sich noch immer nicht von ihr gelöst hat, führt sie eher auf die Gesellschaftsordnung zu Lebzeiten der Forscher zurück als auf prähistorische Tatsachen. Dies belegt Patou-Mathis nicht direkt mit Aussagen von Fachvertretern, sie beruft sich auf - teils kanonische, teils weniger bekannte, stets aber männliche - Wissenschaftler und Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts: als Repräsentanten eines misogynen Klimas, dem auch ihre Disziplin erlegen sei.

Jagddarstellungen auf Kleinkunstobjekten aus Kalkstein oder Rentiergeweih zeigen Frauen

Diesen Vorgang situiert sie wiederum am Ende einer schlaglichtartigen Darstellung der abendländischen Geistesgeschichte als Tour de Force weiblicher Diskriminierung - von Aristoteles über Thomas bis zu Rousseau. Wessen Erfindung aber ist jene Erzählung der gott- oder naturgegebenen Unterlegenheit der Frau als körperlich wie geistig und moralisch schwaches Wesen, dessen Existenzrecht sich auf seine Reproduktionsleistung und die Befriedigung männlicher Triebe und Bedürfnisse gründet?

Um dies herauszufinden, bedient sich Patou-Mathis eines gewaltigen Kameraschwenks in die Altsteinzeit oder das Paläolithikum, also die Epoche der Menschheitsgeschichte, die vor etwa 2,5 Millionen Jahren mit dem Gebrauch steinerner Werkzeuge begann. Haben unsere Vorfahren damals patriarchal gelebt? Die erste Schwierigkeit dieser Frage besteht darin, dass regionale Unterschiede zwischen den Kulturen über die Zeit kaum Verallgemeinerungen zulassen. Zweitens sind die Forschenden angewiesen auf eine begrenzte Zahl archäologischer Quellen - vor allem Skelette, aber auch Malereien und Statuetten - deren Erschließung sie vor Herausforderungen stellt: Knochenfunde etwa sind oft nicht gut genug erhalten, um sie einem Geschlecht zuordnen zu können.

Marylène Patou-Mathis: Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann. Hanser, München 2021. 288 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Mithilfe neuer Analysemethoden, die anhand des Hüftknochens oder der nukleären DNA das Geschlecht bestimmen, ließ sich jedoch bereits die körperliche Robustheit von Frauen im Paläolithikum nachweisen. Patou-Mathis wertet dies als Indiz dafür, dass diese deutlich mobiler waren als angenommen. Statt die Kinder zu hüten, hätten sie als Sammlerinnen täglich weite Strecken zurückgelegt. Damit nicht genug: Zumindest die Skelette von Neandertaler-Frauen weisen an den Ansatzpunkten der Sehnen und Bänder am Ellenbogen einseitige Verschleißerscheinungen auf, die vom Speerwerfen rühren könnten. Dies legt nahe, dass sie an der Jagd beteiligt waren. Dafür sprechen auch Jagddarstellungen auf Kleinkunstobjekten aus Kalkstein oder Rentiergeweih, die Frauen zeigen.

Die Annahme einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist ebenso wenig belegt wie die eines niedrigeren sozialen Status der Frauen

Und wer hat solche Objekte und auch die Höhlenmalereien eigentlich gefertigt? Urhistoriker schlossen weibliche Schöpferinnen mit der Begründung aus, die Höhlenzugänge lägen physisch zu anspruchsvoll, oder die Frauen hätten wegen ihrer mangelnden Erfahrung die Jagd nicht darstellen können. Waren die Frauen jedoch robuste Jägerinnen, verlieren diese Argumente ihre Plausibilität. Im Gegenteil finden sich überwiegend weibliche Handabdrücke, die als Signaturen gedeutet werden, neben Höhlenmalereien.

Demnach ist die Annahme einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ebenso wenig belegt wie die eines niedrigeren sozialen Status der Frauen. Knochenfunde in Grabstätten, die über letzteren Aufschluss geben könnten, lassen sich noch zu selten zuordnen. In Fällen, wo dies gelang, fanden sich auch weibliche Bestattete - im französischen Saint-Germain-de-la-Rivière sogar der Leichnam einer jungen Frau, den eine Halskette aus 64 Eckzähnen einer seltenen Hirschart schmückte. Dies könnte auf eine gehobene gesellschaftliche Stellung hindeuten. Umstritten ist, warum und wann die Frauen dieser beraubt wurden. Als Erklärung wird die jungsteinzeitliche Sesshaftwerdung gehandelt, die mit dem Entstehen der Landwirtschaft vor 10 000 Jahren einherging.

Patou-Mathis trägt ihre wissenschaftlichen Befunde mit einer dezidiert feministischen Agenda vor. Vermeintlichen Determinismus maskuliner Überlegenheit weist sie in die Schranken. Aber auch das Narrativ eines linearen Fortschritts weiblicher Emanzipation entpuppt sich als fragwürdig. Eine Frage, die Patou-Mathis dabei jedoch erstaunlicherweise vernachlässigt, ist die nach der Wertschätzung von Fürsorge-Arbeit. Jedem sollte selbstverständlich die freie Berufswahl zustehen - doch niemand mit dem Speer bewaffnet losziehen müssen, um Anerkennung zu erfahren.

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